Am nächsten Morgen bringt uns der Shinkansen nach Ueda. Die Shinkansengleise des Bahnhofs in Tokyo dürften der Himmel für Eisenbahnfans sein, denn die Shinkansen laufen fast alle zehn Minuten ein.
Bald fährt auch unser Shinkansen vor und wir steigen ein. Zuvor habe ich mir im Bahnhof eine Bentobox gekauft. Das ist eine kalte Mahlzeit in einer Holzbox, die meistens Reis und kleine Happen enthält. Gar nicht so selten sind diese Appetithäppchen Spezialitäten der jeweiligen Region. Die Ursprünge der japanischen Lunchboxen können bis ins 12. Jahrhundert nach Christus zurückverfolgt werden. Traditionell war so eine Holzschachtel mit Reis, Fisch und Seetang gefüllt. Manchmal wurden diese Zwischenmalzeiten einfach in Bambusblätter eingewickelt. Beliebt waren sie auch als Imbiss in den Pausen von No- und Kabukitheater. Um 1950 drohte die Bentobox aus dem japanischen Alltag zu verschwinden, weil selbst in den Schulen Kantinenessen aufkam. 1980 erlebte das Bento jedoch eine Renaissance, als es wieder in kleinen Tante-Emma-Läden in billigeren Styroporschachteln angeboten wurde. Heute kann man wieder Bentos in jedem Bahnhof und Flughafen in den verschiedensten Preisklassen und Zusammenstellungen kaufen. Die Verwendung von Bentoboxen ist wieder so tief im täglichen Gebrauch verwurzelt, dass selbst die Helden aktueller Animes nicht mehr ohne Bentobox auskommen.
Ich schaue aus dem Fenster des Zuges. Tokyo rauscht an mir vorbei und irgendwann lässt der Shinaksen die Stadt hinter sich. Auf der Fahrt verspeise ich nun mein erstes Bento mit einem grünen Tee mit Zitronengeschmack und stelle so ganz nebenbei fest, dass der Shinkansen eine wunderbare Beinfreiheit beim Sitzen und Strom für meinen Laptop bietet.
In Ueda wartet der kleine Hotelbus und bringt uns in einer halben Stunde in die Berge nach Aoki. Wir werden schon im Hof unseres Ryjokans mit einem Blütenrausch empfangen, denn die Azaleen stehen in der Hochblüte. In der Vorhalle heißt es für alle Schuhe aus und die Einheitshausschuhe anziehen, die niemandem so recht passen wollen. Ich frage mich, was es mit einem langen hölzernen Stab auf sich hat, der da herumsteht. Als unsere Reiseleiterin das Ding verwendet, finde ich das Teil dann auch sehr praktisch. Es ist ein Schuhlöffel, den man im Stehen benutzen kann.
Die Straßenschuhe bleiben an der Rezeption in ordentlichen Reihen zurück. Gespannt auf unserer Zimmer schlurfen wir in den zu kleinen Pantoffeln durch knarrende Holzflure und steigen über für Europäer ungewohnt steile Treppen.
Mein Zimmer ist das, was ich mir unter japanischer Wohnkultur vorstellen. Es hat einen Vorraum, wo man die Hausschuhe zurücklässt. Nur in Strümpfen oder barfuß dürfen die Tatami-Matten im Wohnraum betreten werden. Man sitzt auf dem Boden und es gibt einen Stuhl ohne Beine, aber mit Rückenlehne, der sich als sehr bequem erweist.
Und wenn ich die Fenstertüren der Veranda aufschiebe, genieße ich ein Azaleenblütenmeer. Nur der weiße Azaleenbusch vor meinem Zimmer lässt sich noch ein bisschen Zeit. Auf dem Tisch steht ein Tablett mit ein Teeservice und eine kleine Süßigkeit. Bald habe ich auch die Thermoskanne mit dem heißen Wasser entdeckt. Ich setzte mich auf meine Veranda, schiebe die Fenstertüren auf und genieße den Azaleenrausch bei frischer Luft, einer Tasse grünen Tee und leiser Musik von meinem Laptop.
Zwei Stunden später lege ich zum ersten mal eine Yukata an. Zieht man bei uns in Europa einen Hausanzug an, dann greifen die Japaner zu einer knie- bis bodenlangen Kutte, die von einem Stoffgürtel zusammengehalten wird. So angekleidet stolpere ich in den Hausschlappen in Richtung Onsen, dem kleinen Badebecken, im Garten, das von schwefelhaltigen Wasser gespeist wird. Hier in Ueda sprudelt es aus dreihundert Meter Tiefe an die Oberfläche. Auch vor der Tür des Onsen heißt es wieder Schlappen aus und diese am Eingang zurücklassen, weil der Vorraum des Bades mit Tatami-Matten ausgelegt ist. Hier zieht man sich völlig aus und lässt alles außer einem putzlappengroßen Waschlappen in Bastkörben zurück. Im Onsen badet man in Japan nackt. Hier sollte man erwähnen, dass heutzutage die Männer und Frauen diesem Vergnügen in den meisten Onsen getrennt nachgehen. Bevor Japan in den Einflussbereich westlicher Moralvorstellungen geriet, war es aber üblich, dass beide Geschlechter gemeinsam badeten. Aus dieser Sicht waren die Onsen wohl die Heiratsmärkte des alten Japan.
Wenn man den Onsen betritt, muss man sich erst mal ordentlich waschen. Auf kleinen Plastikhocker sitzend wird jedes Körperteil bis in die letzten Ritzen eingeseift und mit dem mitgebrachten Lappen von Kopf bis Fuß geschrubbt und gewienert. Zwischendurch füllt man kleine Plastikkübel mit Hilfe einer Handbrause mit warmem Wasser und schüttelt es sich über den Kopf, um Schaum und Dreck wegzuspülen, ehe ein neuer Waschgang beginnt. Nach ein paar Waschorgien darf man dann hinaus ins Freie und den jetzt vom Schrubben schon fast keimfreien Körper ins warme Wasser des von kleinen Felsen umrahmten Onsen tauchen. Eigentlich habe ich erwartet, dass das Wasser und nachher ich selber stark nach Schwefel riechen. Aber dem ist nicht so. Vielmehr fühlt sich die Haut glatter an. Aber leider steige ich rot wie ein Krebs aus dem Becken, weil während meines zwanzig Minuten langen Bades im Felsenpool die Sonne schien und ich sehr empfindliche Haut habe. Trotzdem hat das Bad auch einen Nebeneffekt: ich lerne die Frauen meiner Reisetruppe näher kennen, weil wir alle zusammen im Felsenpool sitzen und uns unterhalten.
Das Onsenbecken bei Nacht:
Langsam wird es Zeit für das Abendessen. In die Yukata gehüllt und mit den Schlappen an der Füßen mache ich mich auf dem Weg. Unsere Reiseleiterin hat uns versprochen, dass das Essen hier sehr gut sein wird. Ich hoffe, die Küche des Hauses kann dieses Versprechen halten. Ich werde das erste Kaiseki meines Lebens genießen.
Auf dem Weg in den dafür hergerichteten Speisezimmer verlaufe ich mich in den Korridoren und folge schließlich meiner Nase, die mich zur Küche führt. In dem riesigen Raum tummeln sich nur Frauen. Sie schnippeln, zupfen, backen, garen, braten, frittieren, garnieren. Eine Heerschar von Schälchen, Tellerchen und Schüsselchen wird unter ihren fleißigen Händen befüllt und trotzdem bleibt Zeit mich mit einem freundlichen Nicken zu bedenken. Ich grüße mit einem Lächeln und einem »Oishīdesu«, was »das ist lecker« bedeutet, zurück.
Eine ältere Dame zupft mich am Ärmel und fordert mich mit einer Handbewegung auf ihr zu folgen. Sie liefert mich vor der Tür des Speisezimmers ab, wo ich die Schlappen zurücklasse.
Kaiseki, das ist die kreative Küche Japans, für die von Genießern viel Geld bezahlt wird. Es werden nur frische, der Jahreszeit entsprechende Zutaten verarbeitet. Bei der Zubereitung ist wichtig, dass der Eigengeschmack der Gerichte hervorgehoben wird. Und manchmal folgt das gesamte Menü einem bestimmten jahreszeitlich Thema.
Die ursprünglich von Zen-Mönchen zelebrierte und rein vegetarische Küche konzentriert sich heute auch auf Fisch und Fleisch. Mit viel Fantasie, Detailverliebtheit und in Einklang mit dem verwendeten Geschirr werden die Happen mit Zutaten aus der Natur wie etwa Blüten garniert oder als kleine Köstlichkeiten in Bambuskörbchen und auf Blättern serviert. Aber in unserem Ryokan wird auf Porzellan und Keramik angerichtet. Für jeden Gast stehen zusätzlich eine Flasche Bier und eine kleiner Krug warmer Sake auf dem Tisch.
Nahaufnahme des Fischs, der so schmal wie mein kleiner Finger ist und auf der grünen Schale am Tischrand liegt:
Es schmeckt einfach köstlich, ja kaiserlich. Nach dieser Gaumenfreude schlurfe ich etwas beschwipst in den Hausschlappen, die immer noch nicht an meine Füße passen wollen, zurück in mein Zimmer, wo schon das Bett auf den Tatamimatten ausgelegt ist. Das Kopfkissen ist diesmal mit Kirschkernen gefüllt. Es passt sich zwar meiner Kopfform an, aber die Kerne reiben bei jeder meiner Bewegungen aneinander. Irgendwann habe ich mich das seltsame Reibegeräusche gewöhnt und ich schlafe in dieser Nacht ausgesprochen gut. Ob das dem Sake oder den Kirschkernen zu verdanken ist?
Der nächste Morgen fängt mit dem an, was die Köchinnen wohl für ein europäisches Frühstück halten: Rührei, ein kleiner Salat, Toast mit Butter, Marmelade, Kaffee und Tee.
Auf anderen Tischen im Frühstücksraum ist japanisches Frühstück eingedeckt und das sieht schon viel interessanter aus als mein Frühstück, zumal ich Marmelade nicht mag. Ich könnte mir aber vorstellen, dass ein rohes Ei, das man unter den warmen Reis mischt, nicht jedermanns Sache ist.
Nach dem Frühstück ist eine Wanderung in die Berge angesagt. Ich klinke mich aber aus, weil ich das Gefühl habe noch nicht akklimatisiert zu sein. Ich bin heute morgen sehr kurzatmig und mir ist etwas schwindelig. Also gehe ich es langsam an und suche mir schöne Fotomotive in dem kleinen, sehr ruhigen Dorf. Interessant finde ich, dass die Japaner bei aller Kontrolle über die Natur, die sich gerne in ihrer Gartengestaltung ausdrückt, in bestimmten Fällen der Natur ihren Lauf lassen und dafür sogar Zäune zersägen.
Nach ein paar Schritten durch eine Straße mit alter Architektur finde ich den kleinen Dorftempel am Hang. Auf dem Rückweg fallen mir die Kanaldeckel ins Auge, auf denen ein Strauß Iris abgebildet ist, wohl ein Logo, das die Region repräsentieren soll.
Ich wandere eine Bergstraße entlang, weil ich dort oben Bambus gesehen habe. Ich wollte schon immer mal unter dem baumhohem Bambus stehen, den man öfter in asiatischen Filmen sieht. Eine halbe Stunde später finde ich mich unter langen, wohl drei Meter hohen Bambuswedeln wieder. Ich komme mir vor wie eine Feldmaus inmitten eines gigantischen Grasdschungels. Der Blick nach oben ist ein Puzzle aus Himmelsblau und Grüntönen. Sonnenstrahlen fallen durch das Blättergewirr, der langen schmalen Blätter und malen Tuschgemälde auf den Boden. Die eleganten, schlanken Bambusstangen knarren und schaukeln bei jedem Luftzug, während die Blätter leise dazu flüstern. An diese Natursymphonie könnte ich mich gewöhnen. Doch der Bambuswald ist nicht ungefährlich. Die Anwohner haben einige der Stangen abgehauen und als Stützen für die Stangenbohnen im Gemüsegarten nebenan verwendet. Andere Bambusstiele hat wohl ein Sturm kurz über dem Boden abgebrochen. Man muss aufpassen, wo man hintritt, um sich nicht an den rasiermesserscharfen Kanten der abgebrochenen Bambusstümpfe die Waden und Knöchel zu verletzten. Wie ein Kranich stakse ich vorsichtig wieder zurück ins Sonnenlicht.
Auf dem Rückweg zum Ryokan finde ich verwilderte Iris am Wegesrand, genau die, die auf den Kanaldeckeln abgebildet sind. Ein paar von ihnen pflücke ich und stelle sie später in einer Vase auf meine Veranda.
Der restliche Tag ist dem wunderbaren Ausblick in den blühenden Azaleengarten, dem Schreiben dieses Reiseberichtes und einem weiteren Onsenbesuch gewidmet.
An diesem Nachmittag sitze ich bei der Schrubb-Orgie vor dem Bad neben einer älteren, japanischen Dame, die mir ungeniert über den Kopf streicht und lächelnd zu mir »kilin« sagt. Wie ich später von der Reiseleiterin erfahre, heißt das »hübsch« auf japanisch. Die alte Dame hat sich für meine grauen Haare interessiert, die in meinem ansonsten dunkelbraunen Haarschopf mit Henna gefärbt als rotgoldene Strähnen leuchten.
Nach dem Bad ist wieder dieses wunderbare Essen angesagt, das mit soviel Liebe zum Detail gezaubert wird. Das Schüsselchenheer wartet mit ein neue optische und geschmackliche Überraschung. Und es gibt auch nicht das gleiche wie gestern. Da fotografiere ich doch gerne nochmal diese kulinarischen Schönheiten.
Nach dem Festmahl heißt es dann auch schon wieder packen, denn am nächsten Morgen geht es weiter nach Kanazawa. Für unseren Aufenthalt dort ist Regenwetter angesagt. Kurz vorm Einschlafen frage ich mich noch, ob wohl meine Schuhe in den nächsten zwei Tage trocken bleiben, denn Ersatz für nasse Schuhe habe ich nicht im kleinen Gepäck.
Die Herren unserer Truppe sitzen am nächsten Morgen alle etwas schweigsam im Bus, was kein Wunder ist. Wie sich herausstellt, gab es gestern noch eine feuchtfröhliches Treffen, bei dem die ungeöffneten Bierflaschen und der Sake, die gestern nach dem Essen übrig blieben, noch »vernichtet« wurden. Und das waren nicht wenige.