Donnerstag, 12.5.16
Wandertag 11: Von Le Vivier-sur-Mer zum Mont Saint-Michel (Wanderung ca. 22 – 25 km, Shuttlebus ca. 4 km)Wie üblich habe ich auch für den heutigen letzten Wandertag den Wecker auf 7 Uhr gestellt und schaue mir als erstes die Füße an. Die Monsterblase sieht echt nicht gut aus, und dann merke ich auch noch, dass ich leichte Knieschmerzen habe. Hm, woher kommt das denn jetzt? Die Knie sind doch eigentlich Elsas Baustelle. Und dann stelle ich beim Blick aus dem Fenster auch noch fest, dass es regnet. Na ja, vielleicht weint die Bretagne ja schon, weil wir bald abreisen.
Aber was solls, noch ein paar Stunden, dann bin ich am Mont Saint Michel. Dort ist gestern ein netter Schweizer aufgebrochen, den wir beim Frühstück kennenlernen. Er wandert Richtung Westen und hat all die schönen Etappen noch vor sich. Ich bin hin- und hergerissen: Einerseits freue ich mich, dass die Wanderung fast geschafft ist, andererseits beneide ich ihn um all das, was er noch vor sich hat.
Als ich gegen viertel nach neun loswandere, begleitet Elsa mich noch bis zum Ortsausgang. Das komische Gefühl bleibt, ich bin richtig aufgewühlt. Die Ferse tut weh, die Zehen auch, aber das kenne ich ja von gestern, das wird besser werden. Außerdem stelle ich mir den Weg heute richtig leicht vor, es wird sicher über einen Asphaltweg oder einen gut ausgebauten breiten Feldweg gehen, und sicher werde ich die Strecke locker runterreißen.
Seit ich gestern kurz vor Le-Vivier-Sur-Mer den kleinen Ort „Hirel“ hinter mir gelassen habe, bin ich übrigens gar nicht mehr auf dem Hauptweg des GR 34 unterwegs, sondern wandere entlang einer Variante des Weges. Der Hauptweg führt nämlich ein Stück ins Inland, über „Mont Dol“ und in der Nähe des Ortes Dol de Bretagne vorbei. Würde man dem Hauptweg folgen, wäre bis zum Mont Saint Michel noch eine weitere Übernachtung nötig. Die Variante führt entlang der Küste auf direktem Weg zum Ziel.
Zuerst gehe ich über einen Feldweg und will dann Richtung Straße abbiegen, aber ein Spaziergänger spricht mich trotz an und erklärt mir, dass ich bis Cherrueix am Strand entlang gehen könne. Den Tipp nehme ich gerne an und biege Richtung Strand ab, aber dann meldet sich beim Bauchgefühl. Der Spaziergänger ist mir irgendwie unheimlich. Was treibt der sich eigentlich hier bei Regen rum? Und angesprochen hat er mich, obwohl ich ihn extra böse angeguckt habe. Und dann läuft er auch noch schräg hinter mir her. An einem einsamen Strand. Ich bleibe also erst mal stehen, tue als würde ich ausgiebigst ein paar Muscheln fotografieren und lasse ihn passieren. Das ist das erste und einzige Mal, dass ich mich auf dem Weg plötzlich unwohl fühle, dabei bin ich doch vorher schon viele Kilometer alleine gewandert. Als ich ihn vor mir im Blick habe, fühle ich mich jedenfalls deutlich sicherer.
Heute bin ich froh um die Regenjacke und den Hut, denn es nieselt weiter. Der Strand ist eigentlich ganz nett, überall liegen Muscheln, aber das Wetter taucht alles in ein tristes Grau. Abwechslungsreicher und bunter wird es, als ich in Cherrueix wieder an die Straße wechseln kann. Hier wandere ich die nächsten paar Kilometer entlang, trödele herum und fotografiere fröhlich die netten Häuser und die üppige Bepflanzung. In Frankreich haben sie es ja wirklich mit Blumen, viele Kreisel sind geradezu künstlerisch bepflanzt, und selbst hier in einem kleinen Ort abseits der Touristenströme sind viele Häuser mit Blumenschmuck herausgeputzt.
Als ich die letzten Häuser passiert habe, komme ich noch an die kleine Kapelle „Sainte-Anne“.
http://www.cc-baie-mont-st-michel.fr/chapelle-sainte-anne.htmLeider sind die Türen abgeschlossen, sonst hätte ich hier wenigstens noch eine Rast im Trocknen einlegen können, bevor es hinaus in die Wiesen geht, aber das ist mir nicht vergönnt. Also los.
Ab hier führt der Weg mehr als 10 km schnurgerade durch die Marschlandschaft. Ich hatte mir ja wie schon berichtet vorgestellt, dass ich hier auf einem breiten, gut befestigten Damm und einem breiten, gut befestigten Weg wandern würde. Erst mal geht es auch relativ harmlos los, aber der Damm ist doch eher ein Erdwall, und nach ein paar hundert Metern wird dann auch der Weg immer schmaler und wandelt sich bald zum Trampelpfad. Das kümmert mich im Moment aber noch nicht großartig, denn ich versuche begeistert, die vielen süßen Hoppelhäschen zu fotografieren, die in regelmäßigen Abständen vor mir über den Weg springen. Manche sitzen auch mitten auf dem Weg und scheinen abwarten zu wollen, ob ich denn tatsächlich näher komme. Dadurch, der Weg schnurgerade ist, kann ich sie schon von weitem sehen. Einfach goldig.
Es dauert allerdings nicht lange, da trete ich in das erste Loch und finde die Hoppelhäschen nicht mehr so süß, denn die sind bestimmt für die Löcher auf dem Weg verantwortlich. Mistviecher.
Außerdem muss ich leider feststellen, dass all die klugen Menschen Recht haben, die nasses Gras als schlimmste Prüfung für die Wasserdichtigkeit von Wanderschuhen ausgemacht haben. Das Gras ist nass, und je länger der Weg ist, desto höher wird es auch. Und weil es jetzt wieder schlimmer regnet, wird das Gras auch immer nasser. Die Schuhe sind schon klatschnass, und dann fangen die hohen Halme rechts und links des Trampelpfades auch noch an, sich unter der Wasserlast zur Seite zu biegen und gegen die Wanderhose zu klatschen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit und ohne dass ich bisher irgendeine Pause einlegen konnte, komme ich schließlich an ein Schild: Hier mündet der Hauptweg des GR 34 auf den schurgeraden Weg. Immerhin bin ich jetzt wieder auf dem offiziellen GR 34 unterwegs und habe das Gefühl, dass der Weg gleich wieder ein bisschen besser ausgebaut ist. Aber die Kilometerangabe schockt mich, denn danach sind es zum Mont Saint Michel noch 14 km, dabei hatte ich damit gerechnet, ab hier nur noch etwa 10 km laufen zu müssen. 4 km mehr, das ist dann gleich mal eine Stunde Wanderzeit mehr.
Ich lege also noch einen Zahn zu, was im holprigen Gras gar nicht so einfach ist. Der Weg wird auch wieder pfadiger, das Gras höher. Inzwischen ist die Wanderhose klatschnass, ich habe eindeutig den richtigen Zeitpunkt verpasst, die Regenhose drüber zu ziehen. Außerdem sind auch meine Strümpfe klatschnass. Und irgendwann stelle ich verblüfft fest, dass in meinem rechten Schuh Wasser schwappt. Wahrscheinlich ist es von oben in den Schuh gelaufen. Und weil die Schuhe wasserdicht sind, läuft es unten auch nicht wieder heraus, sondern schwappt bei jedem Schritt fröhlich im Schuh.
Mensch, wann taucht endlich dieser Mont Saint Michel vor mir auf? Vorhin hatte ich schon gedacht, ich hätte ihn erspäht, aber nach einer Stunde hat sich der Berg als Baum entpuppt. Jetzt schaue ich angestrengt nach vorne, ob nicht vielleicht doch mal die ersehnte Silhouette vor mir auftaucht. Gegen halb eins ist es dann endlich so weit, grau in grau taucht der Berg auf, auch wenn ihm die Spitze fehlt. Die steckt wahrscheinlich in den Regenwolken. Egal, ich fühle mich plötzlich wie magisch angezogen und marschiere mit neuer Kraft weiter.
Als der Weg gegen halb zwei einen leichten Knick nach rechts einlegt, weiß ich: Ab hier bis zum Informationszentrum sind es noch etwa 4 km. Ich verabrede mich also mit Elsa für halb drei im genannten Zentrum und marschiere weiter. Als hätte die Bretagne beschlossen, mir so kurz vor der Grenze zur Normandie noch eine Extra-Ladung Regen mitzugeben, fängt es jetzt zu schütten an, und der Wind treibt mir den Wind schräg gegen den Körper. Da hilft kein Hut mehr, auch die Regenjacke wird langsam klatschnass. Ich haste weiter und kann irgendwann vor mir ein paar parkende Autos sehen. Ein Fahrer sitzt offenbar im Auto, hat den Motor laufen und das Licht eingeschaltet, und als ich endlich, endlich die Straße erreiche und am Auto vorbeikomme, ruft mir der Fahrer fröhlich zu: „Il fait la douche!“ Ja, tut es offensichtlich, danke für den Hinweis, denke ich, quetsche ein miesgelauntes „Oui“ hervor und werfe ihm einen besonders bösen Blick zu.
So, ab hier muss ich nur noch über die Brücke über den Fluss und dann zum Informationszentrum am anderen Flussufer. Ab dort fahren Busse über eine neu angelegte Brücke vom Festland zum Mont Saint Michel. Wandern kann man die ca. 2 km zwar auch, aber man muss ja nicht.
Die Brücke über den Fluss finde ich leicht, das Informationszentrum nicht. Das ist nicht ausgeschildert, oder ich bin heute blind. Jedenfalls frage ich eine Frau, die an einer Bushaltestelle wartet, nach der Info, vorsorglich auf französisch und englisch, worauf sie mir mit entsetztem Blick erwidert: „Are you lost???!“
Okay, ich sehe also offenbar so aus, als wäre ich gerade aus dem Dschungel gestolpert. Ich versichere ihr, dass ich keineswegs „lost“ sondern an der Info verabredet bin, aber sie sieht mich an, als würde ich gerade im Delirium vor mich hin phantasieren. Hier komme ich nicht weiter. Ich frage lieber in einem Geschäft nach der Info, worauf ich die Antwort bekomme, dass es auf der Landseite gar keine Info gäbe, sondern nur ein Besucherzentrum direkt am Mont Saint Michel. Weil ich aber weiß, dass Elsa das Informationszentrum schon besucht hat, als sie mit dem Bus hier angekommen ist, frage ich nochmal nach und gucke dabei höchstwahrscheinlich schon wieder ziemlich böse. Die Frau denkt nach, und dann fällt ihr ein: Es gibt doch ein Infozentrum. Sogar ganz in der Nähe. Ich folge der ungefähren Richtungsangabe, dann taucht ein großes modernes Gebäude vor mir auf, und gerade als ich mich von der Tür an der Stirnseite abwenden will, weil sie geschlossen aussieht, öffnet Elsa die Tür von innen und ich stolpere hinein ins Trockne. Geschafft!!!
Ich kann es kaum glauben, ich habe es hierher geschafft, und dass wir die letzten 2 Kilometer mit dem Shuttlebus fahren, hatte ich sowieso schon mehr oder weniger eingeplant. Zuerst will ich noch meinen Rucksack in einem der Schließfächer einschließen, aber das geht nicht. Die Logik dieser Überlegungen übersteigt meinen beschränkten Verstand, aber es ist tatsächlich so, dass man die Schließfächer aus Sicherheitsgründen nicht mehr nutzen darf. Könnte ja sein, dass jemand einen harmlos aussehenden, aber möglicherweise höchst gefährlichen Rucksack hier deponieren will. Geht gar nicht. Einen solchen harmlos aussehenden, aber möglicherweise höchst gefährlichen Rucksack darf man andererseits problemlos mit an Bord des Shuttlebusses nehmen und mit ihm den Mont Saint Michel erklimmen, was wir denn auch tun.
http://de.normandie-tourisme.fr/articles/der-mont-saint-michel-298-3.htmlNach diesem Tag des Wanderns in relativer Einsamkeit werde ich von dem Trubel am Mont Saint Michel fast erschlagen. Am Eingangstor kommen uns mehrere Schulklassen entgegen, alle laufen mit nackten Füßen herum. Zuerst denke ich, dass sie so nass geworden sind, dass sie die Schuhe ausgezogen haben, aber tatsächlich nehmen sie an Wanderungen durchs Watt rund um den Mont Saint Michel teil. Wir schauen kurz ins kleine Besucherzentrum hinein und schieben uns dann die schmale Straße bis zur Abtei hoch. Heute ist der Trubel wohl nicht so schlimm wie sonst, trotzdem drängt sich die internationale Touristenschar dicht zwischen Geschäften und Restaurants. Oben auf dem Berg, nachdem wir uns einige Stufen hinaufgekämpft haben, kann man die Abtei betreten und besichtigen. Leider nur ohne Rucksack, wie ein Schild verkündet. Elsa und ich besichtigen die Abteil also getrennt. Ich lasse ihr den Vortritt und setze mich erst mal in ein Lokal, um etwas zu trinken und auszuruhen. Das ist heute meine erste Rast, und ich bin froh, dass ich mal eine Weile in Ruhe sitzen kann und gönne mir das wohlverdiente Bier. Schade nur, dass die Bedienung genau so unfreundlich ist, wie man das von einem überlaufenen Touristenort erwarten kann. Jeder neue Gast wird harsch darauf hingewiesen, dass die Essenzeit vorbei ist und man nur etwas trinken kann. Nach zwei Wochen, in denen wir überall freundlich und herzlich aufgenommen wurden, ist das ziemlich ernüchternd. Ich schicke Elsa also eine Nachricht, dass das Etablissement nicht gerade empfehlenswert ist und treffe mich dann mit ihr unterhalb der Abtei, um meinen Rucksack zu übergeben.
Die Abtei selbst ist beeindruckend. Sie besteht aus mehreren Kirchen und Kapellen, Empfangssälen und anderen Räumen, die über 3 Etagen angelegt und teilweise regelrecht in den Fels hineingebaut sind. Die dicken Säulen in der unteren Etage lassen erahnen, welche Lasten sie stemmen müssen. Ich gehe geleitet von einem gut gemachten Audioguide durch die Räume, und gerade als ich den Blick von einer Terrasse hinunter ins Meer fotografieren will, meldet mein Fotoapparat einen Speicherkartenfehler, und all die Fotos der letzten Tage sind weg. Das ist natürlich kein schöner Abschluss für die Wanderung, aber irgendwie bin ich heute zu kaputt, um das großartig ernstzunehmen.
Als ich Elsa nach der Besichtigung wieder treffe, stellt sich heraus, dass das Alternativlokal, das sie ausgewählt hat, auch nicht besser ist als meine Wahl. Hier stehen die Kellner zu dritt mitten im Lokal und tun ihr bestes, die lästige Kundschaft möglichst zu übersehen. Ist mir egal, ich rufe den Kellner mit einem lauten „Monsieur“ herbei und bestelle noch ein Bier. Elsa berichtet von ihrem Tag: Sie hat sich Dol de Bretagne angeschaut, fand die dortige Kathedrale toll, aber das Regenwetter hat ihr irgendwie aufs Gemüt geschlagen.
Gegen sechs Uhr brechen wir auf und erlösen die Kellner von der lästigen Pflicht, uns weiter bedienen zu müssen. Wir verabschieden uns vom Mont Saint Michel, nehmen den Bus zurück zum Informationszentrum und machen uns zu Fuß auf den Weg zur Unterkunft, dem Gästehaus „Les Vieilles Digues“. Ich bin inzwischen richtig fertig und überlege schon, ob ich in der Unterkunft wahlweise den Boden oder den Türgriff küssen soll, aber als unsere Gastgeberin uns freudig begrüßt, falle ich lieber ihr um den Hals. Geschafft! Wir sind zurück, und ich bin doch tatsächlich die ganze Strecke gelaufen.
Bis zum Auto, das Elsa auf dem Parkplatz in Beauvoir abgestellt hat, muss ich zum Glück nicht mehr mitlaufen, das geht Elsa alleine holen. Ich stelle mich schon mal unter die Dusche, und als Elsa mir meine Tasche gebracht hat, die im Kofferraum auf mich gewartet hat, ziehe ich endlich nach 11 Tagen wieder ein anderes Oberteil und eine andere Jeans an und fühle mich wie ein neuer Mensch. Ich hätte nie gedacht, dass es so schön sein könnte, einfach mal andere Klamotten anzuziehen.
Als ich gegen halb acht Elsa abhole, erkennen wir uns in unseren anderen Klamotten kaum wieder. Ich merke, dass die heutige Wanderung mich richtig gefordert hat und bewege mich mit ziemlich wackligen Knien die Straße entlang, als wir zum Lokal in Beauvoir spazieren. Das Restaurant vom Ankunftsabend hat heute leider Ruhetag, schade, aber gegenüber ist ein anderes Restaurant geöffnet, wo wir mit Lamm von den hiesigen Salzwiesen und Ente unseren letzten Abend feiern und wieder ordentlich bechern.
Auf dem Rückweg zur Unterkunft tun mir die Beine richtig weh und ich falle erklimme nur mühsam die Stufen bis hinauf in mein Zimmer, bevor ich wie ein Stein ins Bett falle.
Die Wanderung ist geschafft, morgen werden wir nach Hause fahren.
Gute Nacht!