Samstag, 5. OktoberEs regnet. Nicht stark, aber beständig. Vom Frühstücksraum aus schauen wir hinauf zur anderen Rheinseite, wo die Wolken um die Burg Katz wabern. Eigentlich hatten wir uns für heute vorgenommen, zwei Etappen zu laufen, nämlich von Bacharach nach Oberwesel und von dort aus weiter bis St. Goar. Beide Etappen zusammen wären weniger als 25 km, und 25 km haben wir gestern ja auch bewältigt. Aber bei diesem Wetter wollen wir lieber einfach mal schauen, wie weit wir kommen.
Zunächst einmal kommen wir nicht weit, denn der Zug hat „wegen Störungen im Betriebsablauf“ eine Viertelstunde Verspätung. Als wir endlich an Bord klettern dürfen, stoßen wir auf sofort auf die „Störungen im Betriebslauf“ in Form einer gutgelaunten Meute Fußballfans. Wohin die wohl unterwegs sind? Als Fußballunkundige fällt uns bei den Farben blau und weiß nur Schalke ein. Aber egal, woher oder für wen sie sind, sie sind jedenfalls multitasking-fähig und vermutlich hart im Nehmen, denn sie halten in einer Hand eine Dose Bier und in der anderen eine Flasche Wein.
Mit 20 Minuten Verspätung erreichen wir dann Bacharach und spazieren durch die Straßen und an romantischen Fachwerkhäusern vorbei.
Dann erreichen wir schließlich wieder den Malerwinkel und den Rheinburgenweg.
Bevor wir uns von Bacharach verabschieden, können wir noch einmal die Burg Stahleck hoch über der Wernerkapelle thronen sehen. Kaum zu glauben, aber als die Burg Stahleck im Jahr 1689 von den Franzosen gesprengt wurde (wir erinnern uns an den zerstörerischen Pfälzischen Erbfolgekrieg), flogen die Trümmer bis hinunter zur Kapelle und beschädigten sie erheblich.
Jetzt wird es sportlich: Während der Regen beharrlich auf unsere Jacken tropft, wird es uns von innen bald wärmer als uns lieb ist. Es geht steil hinauf in die Weinberge. Auf dem rutschigen lehmigen Boden hätten wir ohne die Stahlseile, an denen man sich festhalten und hochziehen kann, diesen Wegabschnitt wohl nicht geschafft. Schließlich erreichen wir die Hangkante und können eine Weile auf ebenem Gelände durch die Weinberge wandern.
Am Heinrich-Heine-Blick auf Bacharach schauen wir ein letztes mal zurück, dann wandern wir weiter durch Wiesen und Felder und stören eine Schar Wildgänse, die sich hier wohl für den anstrengenden Weg in den Süden stärkt. Weiter und immer weiter führt der Weg bei beständigem Regen, fast zwei Stunden tropft es schon unaufhörlich auf uns herab, als wir endlich eine kleine Schutzhütte erreichen. Wir genießen es, für eine Weile im Trockenen zu sein und trösten uns mit reichlich Studentenfutter und Schokolade über das schlechte Wetter. Und der Blick von hier aus auf die Burg Pfalzgrafenstein und Burg Gutenfels ist auch nicht zu verachten. Die Burg Gutenfels am anderen Rheinufer, auch Burg Kaub genannt, teilt übrigens das Schicksal vieler Burgen und wurde Anfang des 19. Jahrhunderts gesprengt. Die Burg Pfalzgrafenstein unten auf ihrer Insel im Rhein wurde dagegen nie zerstört. Dafür musste sie mit Problemen kämpfen, die eine Höhenburg nicht kennt: Sie wurde regelmäßig durch treibendes Eis beschädigt.
Ich hadere inzwischen mit meiner Ausrüstung. Der Hut aus Känguruh-Leder, den ich letztes Jahr in Australien gekauft hatte, trotzt zwar tapfer dem Regen. Aber meine angeblich wasserdichte Regenjacke ist nur am Rumpf wasserdicht. Aber nicht an den Armen. Dort bin ich nämlich klatschnass, und wenn ich wollte, könnte ich die Ärmel wahrscheinlich auswringen. Und die Schuhe, mit denen ich vier Jahre lang bequem unterwegs war und die die gestrige Etappe mühelos mitgemacht haben, scheinen plötzlich geschrumpft zu sein. Oder sind meine Füße seit gestern gewachsen?
Ein Stück führt der Weg noch weiter am Rhein entlang, dann ist – ganz ungewohnt – entlang einer Landstraße ein Stück den Berg hinab zu bewältigen und wir passieren ein Tal, bevor wir wieder hinauf in die Weinberge wandern dürfen. Endlich taucht dann vor uns die Schönburg auf. Elsa freut sich schon darauf, dort im Trocknen einen Schoppen zu trinken, ich bin aber skeptisch: Laut Wanderführer gibt es heute am Weg keine Einkehrmöglichkeit. Also auch nicht auf der Burg. Oder doch?
Der Weg führt nochmal ein Stück entlang einer Landstraße nach unten, und so langsam merke ich jeden Schritt. Der rechte Fuß scheint seit gestern noch stärker gewachsen zu sein als der linke, und die Zehen stoßen beim Bergabgehen schmerzhaft gegen den Schuh. Meinen Füßen kommt es also gerade recht, dass es zur Schönburg wieder ziemlich steil nach oben geht, dafür jammern jetzt die Beine. Irgendwie habe ich den langen Wandertag gestern noch nicht richtig weggesteckt.
Etwas abgekämpft mit schlammbespritzten Wanderhosen und klatschnassen Jacken erreichen wir schließlich die trutzige Schönburg. Erbaut im 12. Jahrhundert, war sie schon wenig später Schauplatz eines Verbrechens, als nämlich Hermann von Stahleck seinen Konkurrenten Otto II. von Rheineck, hier ermorden ließ. Die für eine Rheinburg fast obligatorische Zerstörung im Pfälzischen Erbfolgekrieg erfolgte 1689, doch im 19. Jahrhundert begann ihr Wiederaufbau unter der Regie eines Deutsch-Amerikaners mit dem schönen Namen Rhinelander, dessen Familie aus der Gegend stammte und in den USA mit Immobiliengeschäften ein Vermögen gemacht hatte.
Der Wanderführer hatte es uns verschwiegen: Hier gibt es ein 4-Sterne-Hotel und tatsächlich auch eine Einkehrmöglichkeit in Form eines noblen Burgrestaurants. Aus dem Eingang scheint einladend das Licht hinaus in den Regen. Zögernd schauen wir hinein. Ob man uns abgekämpfte Wanderer hier überhaupt bewirten will? Halb sind wir darauf gefasst, unter Hinweis auf vollbesetzte Tische und/oder obskure Öffnungszeiten (sowas wie elfdreiviertel bis dreizehnuhrsiebzehn, aber nur an jedem dritten Dienstag im Monat) wieder in den Regen hinauskomplimentiert zu werden. Aber nein, wir werden an einen reizenden Tisch geleitet und dürfen bei Kerzenschein mit Silberbesteck unseren wohlverdienten Imbiss genießen.
Nicht nur unsere kleine Ecke, auch die restlichen Räume, in denen Gäste bewirtet werden, sind entzückend eingerichtet. Hier fühlen wir uns wohl. Eine Stunde lang lassen wir uns umsorgen, und langsam wird uns klar: Die restlichen knapp 10 Kilometer bis nach St. Goar wandern wir heute nicht mehr. Es fällt uns schon schwer, überhaupt wieder in die nassen Jacken zu schlüpfen. Aber schließlich müssen wir uns von der Burg verabschieden und schlagen den steilen Pfad hinunter ins Tal ein.
In Oberwesel erklimmen wir die begehbare Stadtmauer und drehen noch eine kleine Runde durch den Ort, dann klettern wir wieder in den Zug nach St. Goar.
Es regnet immer noch, und ich bin froh und dankbar für das trockene Hotelzimmer, die heiße Dusche und das bequeme Bett, in dem ich für die nächsten drei Stunden die geschwollenen Füße hochlege und mir auf Phoenix Dokumentationen über Tiere unter der sengenden afrikanischen Sonne anschaue. Für heute abend haben wir schon gestern einen Tisch in der Loreley bestellt und verbringen den letzten Abend unserer kleinen Wanderreise in leicht wehmütiger Stimmung bei Flammkuchen, Hering und Bier. Wieder zieht es uns zeitig ins Bett. Sollte in St. Goar samstagsabends ein Nachtleben existieren – was wir angesichts der kartenspielenden Hotelgäste in der Loreley nicht glauben – verpassen wir es also. Morgen steht die letzte Wanderung an: Bei hoffentlich besserem Wetter soll es von Oberwesel mit Sicht auf die Loreley bis nach St. Goar und vielleicht noch zur Burg Rheinfels gehen.
Gute Nacht!