Dienstag, 3. Mai 2016
Wandertag 2: Bonabry bis Val André (ca. 21 km)Heute morgen ist das Aufstehen gar nicht so leicht. Die Achillessehne scheint sich zwar über Nacht selbst kuriert zu haben, was ich auf die unfreiwillige Kältetherapie schiebe, aber mich bei der Kälte unter den drei Wolldecken herauszuarbeiten dauert doch eine Weile. Der Vicomte hat uns gestern noch gesagt, dass man morgens auf der Wiese Rehe sehen kann, aber die Fensterscheiben sind so beschlagen, dass ich überhaupt nichts erkennen kann.

Als ich Elsa um acht Uhr abhole und wir frühstücken gehen, ist sie ganz aufgeregt und behauptet, das Phantom habe sie heute nacht besucht. Zum Beweis schwenkt sie ihr Handy mit dem Schrittzähler. Heute nacht um drei sei sie aufgewacht. Und da habe der Schrittzähler ganze 6 Schritte angezeigt, obwohl sie ihr Bett überhaupt nicht verlassen habe. Und wer hat die Schritte gemacht? Das kann nur das Phantom gewesen sein!
Die Vicomtesse hat unser Frühstück schon vorbereitet, und als wir Croissants, Baguette mit Marmelade und ein Stück typisch bretonischen Kuchen, Far breton, gegessen haben, zaubert sie für jede noch eine Crêpe aus der Pfanne. Die angebotenen Eier schlagen wir aus, aber wir nehmen noch ein halbes Baguette mit auf den Weg, um unterwegs Brot für unsere gestern gekaufte Salami zu haben.
Während wir anschließend unsere Sachen zusammensuchen, geben die Scheiben dann doch Blicke nach draußen frei. Ich sehe zwar kein Wild, aber ein paar Pferde werden in den Hof geführt.

Elsa und ich müssen heute wieder die eigenen Hufe schwingen. Etwa 21 km liegen heute vor uns. Verlassen werden wir uns dabei auf die rot-weißen Wegmarkierungen und einen Wanderführer, der von der „Fédération Francaise de la Randonnée Pédestre“, dem französischen Wanderverband, herausgegeben wird und natürlich auf französisch verfasst ist:
http://www.ffrandonnee.fr/boutique/topo-guide.aspx?ref=345 . Wie so vieles andere auch, findet man den Wanderführer inzwischen allerdings auch beim deutschen Amazon. Die heutigen 21 km sind nur ein kleiner Teil des langen Küstenwanderweges mit der Bezeichnung „GR 34“, der rund um die Bretagne führt. „GR“ bedeutet „Grande Randonnée“, der GR 34 ist also frei übersetzt der Fernwanderweg 34. Nicht ganz korrekt, aber weit verbreitet ist auch die Bezeichnung „Sentier des douaniers“, Zöllnerpfad. Vom 17. bis ins 20. Jahrhundert schützten wackere Zöllner auf schmalen Pfaden entlang der Küsten das französische Festland vor bösen Schmugglern.
Zöllnerpfad, das klingt doch gleich viel aufregender als ein bloßer Küstenwanderweg. Denken sich die angrenzenden Gemeinden auch. Wenn sie zu den Glücklichen gehören, an deren Küsten tatsächlich Zöllner ihren Dienst verrichtet hatten, können sie sich mit dem Besitz eines „sentier des douaniers“ schmücken. Wie mein Reiseführer spöttisch erläutert, müssen dagegen die Orte entlang der Küste, die beim besten Willen keinen Zöllner als Namenspatron finden konnten, die Wege durch ihre Gebiete als schnöde „sentiers côtiers“, also Küstenpfade deklarieren.
Wo der GR 34 beginnt und wo er endet, wird unterschiedlich angegeben. In vielen Beschreibungen tauchen der Mont Saint Michel und Saint Nazaire als Start- und Endpunkte auf, offiziell beginnt der Weg jedoch östlich von Rennes in Vitré und damit im Binnenland und führt bis zur kleinen Gemeinde Le Tour-du-Parc im Département Morbihan. Unterschiedlich sind auch die Angaben zur Länge des Gesamtwegs, aber etwa 1600 - 1800 km sollten die Wanderschuhe schon wegstecken können, wenn man den kompletten Weg erkunden will. Und obwohl Teilbereiche des Weges schon lange vorher existierten, wurde erst 2008 der Gesamtweg offiziell ins Leben gerufen.
Heute wandern wir aber nur einen kleinen Teil dieser Strecke, die besagten 21 km bis nach Val-André. 21 km, das schaffen wir locker, denken wir. Ich kann mich an zurückliegende Urlaube in der Bretagne erinnern und bin überzeugt, dass es gestern hinter Saint-Brieuc und vor Bonabry ungewöhnlich viele Höhenmeter zu überwinden galt und der Weg ab heute insgesamt flach ist, entweder unten flach am Meer vorbei oder oben flach entlang der Steilküsten oder über die Kaps.
Der Schlossherr will uns noch Tipps zum Abkürzen geben: Wir sollen nicht auf dem selben Weg wieder hinunter zum Küstenpfad, sondern die Allee entlang gehen und den Weg entlang der Straße nehmen. Wir bedanken uns, aber nein danke, wir wollen ja nicht abkürzen, sondern die Küste entlang wandern. Wie schon der hilfsbereite Spaziergänger gestern in Saint-Brieuc scheint auch der Vicomte nicht wirklich Verständnis dafür zu haben, warum man auf schmalen gewundenen Pfaden an der Küste entlangwandern sollte, wenn man die Strecke viel leichter auf einer breiten geraden Straße laufen kann, aber er lässt uns dann doch ziehen.
Um 9.15 Uhr machen wir uns also auf den Weg hinunter zur Küste und weiter Richtung Osten auf dem Küstenpfad. Man hat tolle Blicke über die Bucht und die Muschelbänke, die die Ebbe freigegeben hat, und wir fragen uns, warum der Vicomte uns diese Blicke vorenthalten wollte. Allerdings ist der Weg tatsächlich wieder anstrengend mit knackigen Auf- und Abstiegen. Schon um 10 Uhr werfen wir Westen und Jacken von uns und wandern im Shirt weiter, ein wenig von der Küste weg und einen Fluss entlang. Ich wundere mich ja doch, dass es schon wieder ständig hoch und runter geht, so hatte ich mir das nicht vorgestellt, aber sicher liegt das nur an der Flussumwanderung. Während wir so wandern und vorsichtig über Steine und Geröll steigen, werden wir das erste mal von einem anderen Fernwanderer überholt, der mit einem riesigen Rucksack die felsigen Passagen wie ein Reh hinunterhüpft.










Nach gefühlt mehr Höhenmetern als damals bei unserer Wanderung auf dem Rheinburgenweg erreichen wir schließlich ein kleines Kraftwerk mit Brücke über den Fluss und Staudamm.


Von hier aus führt der Weg sicher schön am Flussufer vorbei flach zurück ans Meer, denke ich mir mal wieder völlig naiv, aber jetzt geht’s erst richtig knackig hoch, und ich komme ganz schön ins Schwitzen und Keuchen. Der Rucksack trägt sich zwar ganz gut, aber bei den Anstiegen zieht er dann doch heftig nach unten.

Dann öffnet sich aber schließlich wieder der Blick aufs Meer, und wir erreichen die kleine Kirche, die wir schon vom anderen Flussufer aus gesehen haben.


Erst mal machen wir Rast und ich wechsele die Akkus im Fotoapparat und bekomme einen Schreck. Der Ersatzakku ist leer, wie konnte denn das passieren? Ich war so sicher, dass ich ihn aufgeladen hatte. Na ja, ein paar einzelne Fotos lassen sich aus dem fast leeren Akku immerhin noch herausquetschen.
Wir folgen dem Weg oben an der Steilküste entlang und überholen auf dem schmalen Pfad eine Rentnertruppe. Am nächsten Strandzugang fällt der Weg dann wieder steil ab, nur um 10 Meter weiter nach Überquerung der Zufahrtsstraße wieder steil nach oben zu führen. Wir schleppen uns keuchend hinauf, aber die schlauen Rentner unter fachkundiger Führung nehmen einfach den Alternativweg unten am flachen Strand entlang und machen Anstalten, uns wieder zu überholen. So geht’s ja wohl nicht, denken Elsa und ich und legen einen Zahn zu. Als wir den nächsten Abstieg am nächsten Strandzugang erreichen, sind sie mit uns gleichauf, aber sie konnten uns wenigstens nicht überholen, auch wenn das ein hartes Stück Arbeit war.
Wir würden ja eigentlich gerne auch auf dem breiten, von der Ebbe freigegebenen Sandstrand wandern, aber es ragen immer wieder einzelne kleinen Kaps und Felsen weit auf den Strand und versperren die Sicht auf den nächsten Strandabschnitt, so dass wir nicht wissen, ob der Weg bis zum nächsten Strandzugang passierbar ist. Und genau jetzt wandern die ortskundigen Rentner nicht weiter, sondern versammeln sich zu einer Rast. Also bleiben wir oben auf dem regulären Pfad. Um viertel vor zwei rasten wir schließlich mit tollem Blick hinunter aufs Meer, essen das mitgenommene Baguette, dazu die gestern gekaufte Salami und ein wenig Schokolade.




Vor Val-André, unserem heutigen Etappenziel, sollen wir noch in Dahouet vorbeikommen. Im weiteren Verlauf des Weges ist Dahouet mehrfach ausgeschildert, und jedesmal wird die Entfernung mit 30 Minuten angegeben. Ja, haben die keine anderen Schilder? Irgendwann erreichen wir den Hafen dann doch, umrunden ihn und lassen uns gegen viertel vor vier auf der Terrasse eines Lokals nieder und füllen die leeren Elektrolytspeicher mit Bier und Panaché auf, während ich netterweise auch meinen Kameraakku aufladen lassen kann.


Gegen halb fünf wandern wir weiter, mit vielen Spaziergängern um ein kleines Kap herum.


Dann erreichen wir schließlich gegen halb sechs Val-André. Dieser Ortsteil von Pléneuf – Val-André wurde Ende des 19. Jahrhunderts als Badeort gegründet, und heute säumen noch viele kleine Villen die Strandpromenade.





Wir übernachten hier im Hotel Georges. Das Hotel ist sehr schön, kurioserweise gibt es an unseren Duschen aber keine Türen oder Vorhänge, so dass Elsa und ich unsere Bäder beim Duschen halb unter Wasser setzen. Aber die Heizung funktioniert, welch ein Luxus nach den kalten Zimmern im Chateau! Wir waschen ein paar Sachen aus und gehen abends im Restaurant „La Croisette“ essen, unter anderem Austern, Fischsuppe, Petersfisch und Jakobsmuscheln. Zum Abschluss gönnen wir uns einen schokoladigen Nachtisch und schauen von der unter Glas geschützten Außenterrasse hinüber in die untergehende Sonne.




Bisher haben Füße, Knie und Rücken gut gehalten. Elsa brauchte heute zwar ein weiteres Pflaster, aber nicht an den Füßen sondern am Finger, weil sie sich beim Salamischneiden ein wenig verletzt hat. Und als ich zurück ins Zimmer komme, sind meine Sachen an der Heizung schon getrocknet. Sehr schön, so hatte ich mir das auch vorgestellt.
Heute war es teilweise ganz schön anstrengend, aber ich bin mir sicher, dass es ab morgen einfacher wird, entweder unten flach am Strand entlang, oder oben flach auf den Kaps entlang und habe das Elsa beim Abendessen auch ausdrücklich versichert.
Gute Nacht!