4. Tag – Montag, 21.09.
Um 8.15 Uhr ist heute Abfahrt, es geht nach Sassnitz, ca. 30 km entfernt von Sellin, von dort möchte ich an der Kreideküste entlang bis zum nächsten Ort, Lohme wandern. Um diese Uhrzeit ist es wunderbar ruhig auf den Straßen, an der Baustellenampel, an der ich am Samstagnachmittag so lange warten musste, komme ich schnell durch. Insgesamt ist das Fahren hier auf Rügen aber eher mühsam, viele enge Straßen, viele davon Baumalleen, oft noch Kopfsteinpflaster, viele Urlauber, die entweder Zeit totschlagen möchten oder zu Hause nur breite, schnurgerade Straßen kennen und daher oft weit unter der erlaubten Höchstgeschwindigkeit (meist eh nur 80 km/h) bleiben.
Unterwegs tanke ich noch und bin dann gegen 9 Uhr am Parkplatz. Leider gibt es keinen Tagestarif und ich muss pro geplanter Stunde 1 EUR einwerfen, obwohl ich noch gar nicht weiß, wann ich wieder zurückkommen werde. So eine Regelung hat mich letztes Jahr in Noordholland an vielen Parkplätzen schon gestört. Ich werfe 8 EUR ein, das reicht bis 17.20 Uhr, Zeitdruck kann ich im Urlaub und erst recht bei einer Wanderung nicht gebrauchen. Obwohl eigentlich Kartenzahlung möglich ist, werden sowohl meine EC Karte, als auch meine Kreditkarte als ungültig abgewiesen. Egal, Münzen habe ich extra in großer Anzahl dabei. Die Toilette sollte sich gegen Einwurf von 50 Cent öffnen lassen, tut sie aber nicht, wie ein anderer Urlauber erfahren muss. Das ist doof, aber es bleibt mir nichts Anderes übrig, als loszuwandern. Zunächst geht es für ein paar Minuten durch ein Wohngebiet mit Wohnblocks noch aus DDR Zeiten, dann erreiche ich auch schon den Wald und damit den Nationalpark Jasmund, den kleinsten Nationalpark Deutschlands.
Ein Pfad führt durch lichten Buchenwald, die Blätter zeigen schon Ansätze von herbstlicher Verfärbung, die Sonne malt Lichtflecke auf den Boden, nur das Rascheln der Blätter im leichten Wind ist zu hören – ich genieße es sehr, hier entlang zu wandern. Ich entdecke eine Stelle mit einem dicken Baumstamm und Gebüsch drumherum, wo ich endlich „austreten“ kann. Nun macht das Wandern noch mehr Spaß.
Nach kurzer Zeit gibt es die Möglichkeit, zum Strand abzusteigen, der Waldpfad führt als Hochuferweg oben auf der Steilküste entlang, wie in Sellin ist die Gefahr des Abbruchs der Küste sehr hoch, so dass man nur an den gekennzeichneten Stellen an den Strand gehen kann, wobei dies ohne die zu diesem Zweck gebauten Treppen sowieso praktisch nicht möglich wäre, so steil ist es. Natürlich nutze ich diese Möglichkeit – und stehe bald staunend am Strand und blicke auf weiße Kreidefelsen, von der Sonne angestrahlt. Meine Güte, ist das schön hier! Eine ganze Weile halte ich mich hier auf, spaziere mal in die eine, mal in die andere Richtung, setze mich auf einen Stein und höre dem Plätschern der Wellen zu.
Dann steige ich wieder zum Hochuferweg hinauf und folge ihm, es geht fast im stetigen Wechsel bergab und bergauf und das häufig auch sehr steil, das schöne ist aber, dass es kein Geröll gibt, sondern der Weg ausschließlich aus einer Erde-Sand Mischung besteht, bei der es keinerlei Rutschgefahr gibt, so mag ich das. Nur auf die zahlreichen Baumwurzeln muss man aufpassen.
Ich komme an der „Waldhalle“ (seit 2017 Michael-Otto-Haus, UNESCO Welterbeforum) vorbei, hier gibt es die Möglichkeit, eine Kleinigkeit zu essen, es gibt Toiletten und eine Ausstellung über den Nationalpark. Das Gebäude wurde zu Beginn des 20. Jh. errichtet als Ausflugsgaststätte. Schon damals war Rügen ein beliebtes Reiseziel.
Weiter auf dem Hochuferweg gibt es nun recht häufig wunderbare Ausblicke auf die Kreideküste.
Dann gibt es noch ein weiteres Mal die Möglichkeit zum Strand zu gelangen, über einen hölzernen Treppenweg und zum Schluss eine steile Treppe aus Metall gehe ich zum Kieler Ufer hinunter – wie auch am vorigen Strandzugang ist es hier wunderschön, als Zugabe fließt direkt neben der Treppe ein kleiner Wasserfall an den Strand. Wieder bleibe ich einige Zeit und versuche, die Schönheit der Natur in mich aufzusaugen.
Wieder auf dem Hochuferweg
erreiche ich bald eine weitere Aussichtsstelle – mit einem unfassbar traumhaften Anblick – die Kreideküste im leichten Gegenlicht, den Strand, an dem ich vorhin war – dieser Ausblick gehört für mich zum schönsten, was ich bisher an Naturwundern gesehen habe. Und nun habe ich auch noch das Glück mit genau dieser Aussicht Mittagspause (es gibt das Schnitzelbrötchen, das ich gestern nicht gegessen habe, da ich im Restaurant zu Mittag war, durch die Nacht im Kühlschrank war es immer noch gut) machen zu können, es gibt einen einzelnen Baumstumpf als Sitzgelegenheit, von den anderen Wanderern, die ab hier nun etwas häufiger werden, nicht beachtet. Ewig könnte ich hier sitzen und schauen.
Irgendwann muss ich dann aber weiter, der Hochuferweg nähert sich seinen (heutzutage) bekanntesten Stellen (nachdem die Wissower Klinken 2005 ins Meer stürzten), der Victoriasicht mit Blick auf den Königsstuhl und der Königsstuhl selbst.
Schon von Ferne sehe ich durch die Bäume sehr viele Menschen herumstehen und kann es mir zunächst gar nicht erklären. Dann erreiche ich die Stelle und sehe, dass die sog. Victoriasicht aus drei kleinen Aussichtsplattformen aus Holz besteht, der Rest des Bereichs unmittelbar an den Klippen ist durch Zäume weiträumig abgesperrt. Die Menschen stehen tatsächlich auf einem Waldpfad mitten in der Natur in einer langen Schlange an, um für eine eng begrenzte Zeit auf eine der Aussichtsplattformen zu kommen. Da fehlen mir, diesmal im negativen Sinne, die Worte. Und es herrscht ein ziemlicher Lärm, da diese Leute mit Kind und Kegel hier sind, mit Kinderwagen auf diesem wurzeligen Waldpfad, mit Stoffschühchen, mit kleinen Hunden,…
So schnell ich kann, laufe ich an dieser Stelle vorbei, nein danke, dann verzichte ich auf die Victoriasicht eben, das was ich heute schon gesehen habe, kann sowieso nicht mehr getoppt werden.
Kurz nach den Aussichtsplattformen der Victoriasicht erreiche ich den Endpunkt einer geteerten Straße, bis hierher kann man mit dem Bus vom etwas entfernten Großparkplatz fahren. Hier befindet sich auch der Zugang zum Königsstuhl, dieser ist gebührenpflichtig, man kann dort auch eine Ausstellung zum Nationalpark anschauen, auch hier eine lange Schlange am Eingang. Ich gehe schnell weiter und bin schon ein paar Minuten später wieder fast alleine auf der Fortsetzung des Hochuferwegs in Richtung Lohme.
Ausblicke aufs Wasser gibt es nun keine mehr und so schön der Waldweg auch ist, es zieht sich etwas. Daher bin ich froh, als ich den Strand von Lohme erreiche. Er liegt schon im Schatten, nur der Findling Schwanenstein wird noch schön von der Sonne beleuchtet.
Kurz darauf bin ich gegen 14 Uhr am kleinen Hafen von Lohme. Ein Stück den Berg hinauf befindet sich das Café „Niedlich“ am Steilhang, von der Terrasse hat man einen wunderbaren Blick über den Hafen, aufs Meer und bis zum Kap Arkona. Ich bekomme einen Tisch im vorderen Terrassenbereich und bestelle Käsekuchen und einen großen Milchkaffee. Nicht nur die Aussicht ist toll hier, sondern auch die Ruhe, hier ist nichts mehr vom Trubel bei Königsstuhl und Victoriasicht zu spüren, obwohl Lohme nicht weit davon entfernt ist.
Nach einer halben Stunde gehe ich den steilen Weg zur Hauptstraße von Lohme hinauf, wo um viertel vor drei der Bus zurück zu meinem Ausgangspunkt Sassnitz fährt (EUR 3,20).
Nur eine Viertelstunde dauert die Fahrt bis zur Hauptstraße von Sassnitz. An dieser gehe ich entlang bis ich oberhalb des Hafens bin. Eine moderne Fußgängerbrücke führt hinunter ans Wasser.
Vom Hafen sehe ich nicht viel, irgendwie verpasse ich den Weg auf die Mole, von der aus man die Schiffe betrachten kann. Hätte ich nicht schon eine 12 km Wanderung hinter mir, würde ich umdrehen, so gehe ich an der Strandpromenade weiter. Bald kommt die am Hang liegende Altstadt in Sicht, der Sassnitz den Beinamen „Weiße Stadt am Meer“ verdankt.
Auch in Sassnitz gibt es eine Seebrücke, leider darf diese schon seit Jahren wegen Baufälligkeit nicht betreten werden, kaum zu glauben, dass das bei dem Geld, das die vielen Touristen jedes Jahr in Rügen lassen, passieren kann. Ein Stückchen weiter steht die Konzertmuschel des Rügener Ingenieur Ulrich Müther von 1987, diese wurde 2018 von der Stiftung Wüstenrot restauriert. Scheinbar weiß die Stadt nichts mit ihr anzufangen, sie steht einsam und ungenutzt da – sehr schade.
Ulrich Müther war in der DDR (und darüber hinaus) für seine „hyperbolischen paraboloiden Betonschalen“ oder „doppelt gekrümmten Betonschalentragwerke“ bekannt, auf Rügen gibt es noch ein paar mehr Schalenbauten, die ich mir in den nächsten Tagen noch anschauen möchte, der „Teepott“ in Warnemünde ist auch von ihm, ebenso die inzwischen abgerissene Gaststätte „Ahornblatt“ in Berlin und das Restaurant „Seerose“ in Potsdam. Interessanterweise wurde auch die Kuppel des Zeiss Planetarium in Wolfsburg 1983 von Müther konstruiert, im Gegenzug wurden an die DDR 10.000 VW Golf geliefert.
Ich schlendere durch die kleine, aber feine Altstadt langsam den Hang wieder nach oben.
Gegen 16 Uhr bin ich am Parkplatz.
Die Rückfahrt dauert erwartungsgemäß deutlich länger als die Hinfahrt, über eine Stunde brauche ich für die 30 km.
Auf der Terrasse meiner Ferienwohnung gibt es in der warmen Abendsonne gemütlich etwas zu essen, für einen Abendspaziergang bin ich heute zu müde. Ich denke nochmal an die wunderschönen Kreidefelsen zurück, die ich heute sehen durfte und beschließe, falls es nächste Woche nochmal einen sonnigen Tag gibt, mir den Anblick ein zweites Mal zu gönnen, dann vielleicht auch mit Victoriasicht.
Wetter: sonnig, ca. 22 °C
Wanderung: Rother Wanderung Nr. 29, 12,4 km, 200 Höhenmeter