Autor Thema: 25 Jahre später... Eine Reise hinter die Mauer im Kopf - Polen 2014  (Gelesen 37770 mal)

Birgit

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Die Mauer muss weg...

Ja, ich gebe zu, auch ein viertel Jahrhundert nach der Wende und nach fast 20 Jahren, die seit meiner eigenen Umsiedelung hinter den ex-eisernen Vorhang vergangen sind, habe ich mich niemals groß um die Nachbarn im Osten geschert. Prag kenne ich, da war ich zu Chemnitz-Zeiten gelegentlich, das ist aber in der zweiten Hälfte der 90er Jahre gewesen und somit auch schon eine Weile her.

Wie sieht es eigentlich in den ehemaligen so genannten Ostblockstaaten so aus, frage ich mich. Also will ich mal unsere östlichen Nachbarn beehren. Krakau soll wunderschön sein, und an die Ostsee will ich mal wieder. Ich war so lange nicht mehr an der Ostsee.

Also gut, nach Krakau will ich nicht in einem Rutsch durchfahren, da liegt Breslau auf dem Weg. Und auf dem Weg an die Ostsee liegt Warschau.

Und wo sind eigentlich die Masuren? Nicht so weit weg, und da liegt dann noch Gregersdorf bei Neidenburg auf dem Weg, der Ort, wo meine Oma vor dem und im ersten Weltkrieg groß geworden ist, bevor sie sich dann irgendwann entschloss im Ruhrgebiet auf Arbeitsuche zu gehen. Und somit steht die grobe Route fest. 12 Tage will ich mindestens unterwegs sein. Die drei Nächte in Zoppot, wo auch Vorfahren von mir gelebt haben, das kann ich zur Not noch um zwei Nächte verlängern. Tja, das ist der Vorteil, wenn kein Flugzeug auf einen wartet. Und irgendwo auf dem Rückweg muss ich dann noch einmal zwischenübernachten, aber das buche ich erst einmal nicht, da findet sich sicher etwas.

Hotels sind erschwinglich, ist schließlich noch keine Hauptsaison, und bald stehen meine Herbergen fest. Sie kosten in Krakau, Warschau und Zoppot verhältnismäßig viel, in den anderen Orten nur sehr wenig, alle so zwischen 45€ und 85€ pro Nacht.

Gerade erst aus Stockholm zurück, noch eine Woche gearbeitet, der Wetterbericht sagt ein heißes Pfingstfest voraus und es kann losgehen.

Der Koffer ist voller als sonst, schließlich kann ich auch mal etwas im Auto lassen. Und ich reise nicht allein. Idefix begleitet mich, mein Roller, der mir schon auf einem Wochenendtrip in München im letzten Sommer gute Dienste geleistet hat und der das ideale Cityfortbewegungsmittel ist, solange es nicht bergig ist. Idefix ist sehr kommunikationsfördernd, und auch in Erfurt werde ich immer wieder auf ihn angesprochen.

Wer kommt mit uns mit?

Flicka

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Erste!

Ich bin gerne dabei. Vor ein paar Jahren war ich mal für ein langes Wochenende in Riga, das hat mir irgendwie schon Lust auf "den Osten" gemacht.

Ich bin gespannt. Nicht nur auf den Osten, sondern auch auf Idefix.  :)

Andrea

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Birgit, auf dich ist Verlass: Kaum zurück und schon beginnt der Bericht! *freu* Ich reise gerne mit, denn auch bei mir sind noch
Bilder von sozialistischen Parolen statt Werbung an den Wänden im Kopf. Das soll sich endlich mal ändern!
Liebe Grüße, Andrea



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Birgit

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Flicka, jeden Tag wird es ein Idefix-Bild geben ;)

Andrea, ich bin total erleichtert, denn ich hatte schon befürchtet, dass ich vielleicht so eine ewig Vorgestrige sein könnte, aber anscheinend ist es in gewisser Weise normal, dass da noch nicht jede Mauer geistig gefallen ist.

Ihr werdet eine Menge sehen, was rundweg gar nichts mit Sozialismus zu tun hat, dennoch sicherlich mit Zeitgeschichte. Ich war total angenehm und positiv von dem Land überrascht.

Birgit

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FR, 6.6.2014: Kann losgehen - erstmal bis Dresden

Schon am Donnerstag ist im Grunde fast alles erledigt. Freitag muss ich noch ein bisschen arbeiten, aber gegen 16 Uhr sitze ich buchstäblich auf gepackten Koffern und mopse mich. Was nun?

Görlitz ist schön, da war ich mal sehr kurz für ein paar Stunden in meiner Chemnitz-Zeit vor vielen Jahren. Aber wenn ich jetzt losfahre, bekomme ich von Görlitz nichts mehr zu sehen.

Na gut, dann eben Dresden. Das Internet bietet für 45 Euro ein gutes zentrales Hotel und wenn ich um 18 Uhr loskomme, bin ich spätestens um 20.30 Uhr da. Also los! Gebucht ist gebucht und Bangemachen gilt nicht.

Idefix ist schon im Auto, da wohnt er ohnehin meistens, der Koffer kommt dazu und eine Tüte Haribo auf den Beifahrersitz und los geht es.

Idefix und ich fahren in Dresden noch ein bisschen spazieren, während es langsam dunkel wird. Die Oper muss gerade beendet sein. Lauter wirklich fein gemachte Menschen auf dem großen Platz. In die Semperoper scheint man wohl wirklich noch im Abendkleid zu gehen. Noch eine große Apfelschorle auf der Tourimeile an den Terrassen. In die Neustadt zu fahren, habe ich nämlich keine Lust mehr, auch wenn Idefix große Lust auf noch ein bisschen Bewegung hätte.

Viel später als erwartet bin ich wieder am Hotel. Aber macht nichts, In Dresden war ich zuletzt vor etlichen Jahren. In Chemnitz-Zeiten hat die Stadt mich öfter gesehen. Ich muss sagen, Dresden ist schmuck herausgeputzt inzwischen. Und auch wenn man dort wohl oder übel jede Menge Klischees für Touristen aus Übersee erfüllen muss, finde ich die Stadt inzwischen richtig attraktiv, was aber auch nicht schwer ist an einem so schönen sommerlichen Abend.














Birgit

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SA, 7.6.2014: Anfang in Breslau:

Eigentlich geht es heute erst los, und weil ich 2 Stunden gespart habe, darf ich etwas trödeln und muss nicht, wie ursprünglich geplant, um 8 Uhr im Auto sitzen.

Und übrigens, wo wir uns nun der Grenze nähern: Ich habe bisher nur die deutschen Namen der Städte benutzt, ganz einfach deshalb, weil sie mir geläufiger sind. Warum sind sie mir geläufiger? Als Kind habe ich in der Kolberger Straße in meinem Heimatort gewohnt, da waren die Danziger Straße, Stettiner Straße, Breslauer Straße usw. nicht weit weg. In der Tagesschau wurden Nachrichten aus Polen immer unter Nennung der Hauptstadt Warschau eingeleitet, und die Oma sprach immer von Neidenburg und Gregersdorf, und erst, als sie schon lange dort weg war, wurden die Orte umbenannt.

Ist es politisch korrekt es so zu halten? Google bejaht die Frage bedingt: Man darf die alten deutschen Namen benutzen, solange sie keine Zwangsumbenennungen polnischer Städte aus der Nazizeit sind. Und selbst auf polnischen Websites werden die deutschen Namen bekannter Städte zumindest mit erwähnt. Andere Stimmen sagen, man solle aus Respekt dem Land gegenüber die polnischen Namen benutzen, die deutsche Zeit hier sei schon lange vorbei. Und dann wieder sagen andere, man solle es doch so halten wie man wolle, beides sei eben geläufig, da solle man keine große Geschichte draus machen, gerade weil es schon so lange her ist. Schließlich benutzten auch die Polen für die Städte in Deutschland die polnischen Namen. Der jetzigen Generation könne man sicher keinen Vorwurf des Verhaftetseins in der Vergangenheit machen.

Also benutze ich nun einfach die Namen, die ich kenne und versichere, dass es keinerlei politischen oder ideologischen Hintergrund hat. Und Orte, die sich mir gleich unter polnischem Namen vorgestellt haben, heißen für mich eben polnisch. Egal, wenn es dadurch ein bisschen bunt durcheinander geht wie in der Geschichte Polens ja schließlich auch.

Die 2,5 Stunden nach Breslau sind schnell herum. Den Grenzübergang bemerkt man kaum. Dzien dobry, Polska, nun bin ich hier.

Tanken erstmalig in Polen geht wie in Deutschland ohne solches Brimborium wie in den USA mit prepaid usw. Und einen ATM gibt es hier auch, der für den Anfang 500 Zloty ausspuckt, für einen Euro bekommt man etwa 4 Zloty.

Breslau bringt Bekanntes: IKEA, Toys 'r us, Media Markt, Decathlon und mehr ballen sich an der Ausfahrt zu einem der üblichen Einkaufszonen vor den Toren der Stadt zusammen.

Die Navi leitet mich zum zentralen Mercure direkt neben einer der üblichen innerstädtischen Shopping Malls und ich darf schon vor 13 Uhr einchecken. Ein ziemlich typisches Mercure: Nichts Besonderes, nicht charming, aber solider Standard, alles sauber und nett und das für nur 50€.

Ich ziehe los und erwarte nicht viel, aber die Stadt ist nach anfänglich tatsächlich noch etwas sozialistischem Flair im Inneren sehr hübsch. Der Rynek, den es wohl in allen polnischen Städten gibt, zeigt ein kunterbuntes Gewusel, hier ist Frühlingsfest und zusätzlich wird mit zahlreichen Markstständen gerade Europa geehrt. Spirituosen aus der gesamten EU und Speisen tragen zum Wohlbefinden bei. Breslau hat bei mir aber völlig gewonnen, als ich tatsächlich einen Cinnabon entdecke und man mir dort eine original USA-Cinnamonroll verkauft. Ich werde die Entgleisung über den Atlantik abends mit typisch polnischen Piroggen wieder gut machen, versprochen!













Mit noch etwas klebrigen Fingern löse ich mein Ticket für mein heutiges Fitnessprogramm und steige 83 Meter auf den Turm der Elisabeth-Kirche, von der aus ich einen tollen Überblick über die Stadt gewinne.







Ich wurschtel mich durch zum eher barocken Universitätsviertel. Das moderne Uni-Gebäude zieht ob seiner Hässlichkeit Blicke an, aber irgendwie scheint es nicht mehr in Betrieb zu sein. Das nahe altehrwürdige Unigebäude hingegen ist wunderschön. Die daneben liegende barocke Kirche ist ebenfalls hübsch.











In der Stadt leben überall kleine Zwerge, nur so etwa 30 cm groß. Einige von ihnen habe ich entdeckt.



Ich spaziere auf die andere Seite der Oder und durch den dortigen Park. Ziel ist das Panorama Raclawicka, ein wohl bombastisches Gemälde, das in einem hässlichen runden Betonbau untergebracht ist. Auf dieses sind die Breslauer sehr stolz, und es gibt keine Karte mehr für heute. Na, macht nichts, so wild bin ich bei der schönen Sonne gar nicht darauf mich ehrfürchtig vor einen Ölschinken zu stellen, der langatmig erklärt wird. Lieber sitze ich ein wenig an der Oder herum und sehe mir die vorbeispazierenden Leute an.





Ich bin wieder ganz in der Nähe des Hotels und gehe ein wenig ins Zimmer um mich auszuruhen.

Abends ziehen Idefix und ich nochmals los. Er gibt mir die Chance einiges von Breslau zu sehen, man kann eben mal schnell noch ein paar Meter weiter rollern und mal um die nächste Ecke schauen auch bei Wegen, die zu Fuß zu lange dauern würden.



Am Rynek steppt der Bär. Die Kneipen und Restaurants sind voll. Straßenkünstler führen ihr Können vor und werden auch von vielen bewundert. Ich bekomme Piroggen und Salat und viel Wasser. Ich komme im Dunklen im Hotel an. Ich will Idefix nun nicht mehr ins Auto ind die dustere Parkgarage bringen, er darf in meinem Zimmer übenachten.


Andrea

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Die erste Mauer ist umgerissen - es kommt sofort Urlaubsfeeling auf! Von wegen alles grau und "Platte"  ;) Tolle farbenfrohe Eindrücke!
Liebe Grüße, Andrea



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Birgit

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Absolut! Die Städte, in denen ich gewesen bin, waren alle sehr lebendig, sehr liebevoll saniert bzw. gerade auch Breslau musste von Grund auf wieder aufgebaut werden.

Für viele der ehemals deutschen Städte gilt: Die Deutschen wurden nach dem Krieg von dort vertrieben, es haben sich vertriebene Polen dort angesiedelt aus den Gebieten, die nun zu den baltischen Staaten gehören, also damals an die Sowjetunion gefallen sind.

Bei der Zufahrt zu verschiedenen Städten kommt man natürlich durch trübe Gegenden, aber wenn man schon mal durch Außenbezirke von Hamburg, Paris, New York oder auch Erfurt ;) gefahren ist, dann weiß man, dass das einfach bei Städten ab einer bestimten Größe so ist...

Andrea

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Absolut!
Liebe Grüße, Andrea



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MsCrumplebuttom

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Ich lese auch gerne mit! Was du hier zeigst, gefällt mir schon mal sehr gut. Bisher war Berlin in Europa mein östlichster Punkt. :o


Viele Grüße
Nadine

Ilona

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Re: 25 Jahre später... Eine Reise hinter die Mauer im Kopf - Polen 2014
« Antwort #10 am: 23. Juni 2014, 10:16:31 »
Ein buntes Breslau und so ein leckeres Essen - das gefällt mir schon mal sehr gut  :thumb:.
Liebe Grüße

Ilona

"Man muss viel laufen. Da man, was man nicht mit dem Kleingeld von Schritten bezahlt hat, nicht gesehen hat" (Erich Kästner)


Birgit

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Re: 25 Jahre später... Eine Reise hinter die Mauer im Kopf - Polen 2014
« Antwort #11 am: 23. Juni 2014, 10:38:56 »
Ja, Piroggen, also gefüllte Nudeln, gibt es in allen Varianten. Einmal war ich in einer Kneipe, da hat es mehr als 10 herzhafte und ebenso viele süße Varianten gegeben. Und das Ganze für einen Spottpreis, meistens umgerechnet weniger als 5 Euro pro Portion (so 14 bis 18 Zloty, 4 Zloty entsprechen einem Euro).

Und östlich von Berlin wird es erstmal recht langweilig, aber mir hat es besonders im Norden Polens dann sehr gut gefallen. Ich hätte auch noch in die hohe Tatra fahren können, das ist von Krakau leicht zu erreichen, aber irgendwo musste ich Abstriche machen, und ich bin nicht so ein Bergefan.

Susan

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Re: 25 Jahre später... Eine Reise hinter die Mauer im Kopf - Polen 2014
« Antwort #12 am: 23. Juni 2014, 12:55:23 »
Hallo Birgit,

ich lasse mir auch gern ein paar Vorurteilsmauern einreissen  8) Und der Anfang ist mit den hübschen Eindrücken aus Breslau schon mal voll gelungen
Liebe Grüße
Susan


Flicka

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Re: 25 Jahre später... Eine Reise hinter die Mauer im Kopf - Polen 2014
« Antwort #13 am: 23. Juni 2014, 13:56:58 »
Nett, dass du erklärst, was Piroggen sind. Der Begriff ist mir schon öfter untergekommen, jetzt weiß ich auch, was es ist.  :)

Die Eindrücke von Breslau sind schon mal sehr schön, und ich glaube, das liegt nicht nur am sonnigen Wetter. Ich fühle mich an Stralsund erinnert, nur scheint mir Breslau viel mehr schöne Ecken zu haben.

Ein herzlicher Gruß auch an den lieben Idefix!  :)

Heiko

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Re: 25 Jahre später... Eine Reise hinter die Mauer im Kopf - Polen 2014
« Antwort #14 am: 23. Juni 2014, 14:09:22 »
Eine Reise nach Polen, da werde ich auch mal mitlesen. Auch dieses Land hat viele interessante Landschaften, vor allem die der Ostseeküste und der masurischen Seenplatte gefallen mir besonders gut. Aber auch deine Bilder von Breslau sind interessant. Beeindruckend, mit welcher historischen Sorgfalt diese Stadt wieder aufgebaut wurde.


Für viele der ehemals deutschen Städte gilt: Die Deutschen wurden nach dem Krieg von dort vertrieben, es haben sich vertriebene Polen dort angesiedelt aus den Gebieten, die nun zu den baltischen Staaten gehören, also damals an die Sowjetunion gefallen sind.

Die Polen, die nach dem Krieg in den ehemals deutschen Gebieten angesiedelt wurden, kamen überwiegend aus dem ehemaligen östlichen Teil Polens, welcher von der Sowjetunion annektiert wurde. Dieser Teil gehört heute zu Weißrussland und der Ukraine. Sie kamen eher weniger aus den baltischen Staaten, zu denen eigentlich nur Litauen, Lettland und Estland gehören. Polen wurde also komplett nach Westen verschoben, was man in dieser Grafik sehr gut erkennen kann:


Gruß
Heiko

Nur wo du zu Fuß warst, bist du auch wirklich gewesen. (Johann Wolfgang von Goethe, 1749 - 1832)