Autor Thema: Deutschland - Behindertenfeindliches Land und TUI ist tapfer mit dabei...  (Gelesen 20833 mal)

Rainer

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Ich habe gerade wieder mal eine neue Nuance der ausgeprägten Behindertenfeindlichkeit in Deutschland gelernt, TUI bekleckert sich da mit ganz besonders peinlichem Ruhm.

Auf der Suche nach einer Urlaubsidee für den Oktober (wir haben da noch 1-2 Wochen Urlaub zu vergeben) habe ich einfach mal kreuz und quer alle möglichen Varianten durchgespielt, die eine nicht allze beschwerliche Anreise haben und die für mich attraktiv erscheinen. Dazu gehört u.a. auch die Idee, eine Kreuzfahrt zu machen.

Bei der Gelegenheit bin ich auf den einschlägigen Seiten gewesen und dann findet man, außer den "normalen" Seekreuzfahrten auch Flusskreuzfahrten, die mich bisher nicht so angesprochen haben, aber da war dann eine dabei, die passte terminlich gut, die sollte ab/bis Düsseldorf gehen (ist natürlich genial - quasi fast keine Anreise für uns), der Preis war gut und es klang auch interessant, es sollte mit dem "hochmodernen" (O-Ton) und neuen Schiff "TUI Sonata" bis Amsterdam und zurück gehen, wobei Amsterdam alleine 2 Tage einnimmt. Und Plätze gab es auch noch.

Das hätte ich möglicherweise jetzt einfach so gebucht, aber irgendwie dachte ich dann doch, ach schaust Du doch mal, wie das mit behinderten Passagieren da so aussieht, welche Möglichkeiten es gibt und wie die Ausstattung insgesamt so ist. Das gestaltete sich dann überraschend schwierig, ich habe auf diversen Seiten zunächst überhaupt keine konkreten Hinweise bekommen, bis ich dann endlich auf irgendeiner "Service" Seite von TUI den klaren Hinweis bekam, dass das Schiff nicht für Rollstuhlfahrer geeignet sei.

Das finde ich ja schon einmal ziemlich armselig, dass wieder einmal die Rollstuhlfahrer schauen dürfen, wo sie bleiben. Und das bei einem angeblich "hochmodernen" Schiff. In den USA hätte das Schiff gar keine Zulassung - Punkt. Andererseits dachte ich dann (weil da stand dann auch, dass das Bordpersonal leider keine Hilfen anbieten kann, Behinderte müßten die notwendige Begleitung mitbringen), immerhin "Behinderte" scheint es dann doch möglich zu sein, ich sitze ja auch nicht im Rollstuhl, aber ich kann eben keine Treppen steigen.

Gut, dann schaue ich halt, dass ich eine Kabine nicht so weit weg vom Fahrstuhl bekomme (immerhin haben auch diese flachen Flussschiffe 4 Etagen). Ja - denkste Puppe! Diese absoluten Scheißschiffe haben gar keinen Aufzug! Wie bitte?? Ja, richtig gelesen, auf diesen 4-5 Sterne Schiffen "nach neuestem Standard" gibt es KEINEN Aufzug. Sollen die Scheißbehinderten doch bleiben, wo der Pfeffer wächst, aber dieses Schiff werden sie nicht betreten!

Das hat mir echt den Rest gegeben - wie kann das heute noch möglich sein, dass in "Asi-Deutschland" solche Schiffe neu gebaut werden, ohne auch nur an Behinderte zu denken? Wie asozial muss man dafür sein, um das total zu ignorieren? TUI sollte sich schämen, die sind für mich gestorben, ich werde in den nächsten Tagen meine TUI VISA zurückgeben, mit so einem Laden will ich keine Geschäfte mehr machen. Es ist wirklich unfassbar.

DocHoliday

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Finde ich auch ziemlich mies.

Aber zum Thema Zulassung in Deutschland: Das Ding fährt laut Wiki unter der Flagge von Malta.
TUI wird wissen warum!

serendipity

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Ich kann deine Entrüstung und deinen Zorn sehr gut verstehen und bin sehr überrascht, dass es wirklich so wenig offene Informationen zum Thema Barrierefreiheit auf (Fluss-) Kreuzfahrtschiffen gibt bzw. bin ich davon ausgegangen, dass man relativ schnell auf entsprechende Informationen stößt. Das es relativ neue Schiffe gibt, deren Bauweise keine behinderten Menschen zulassen, finde ich absolut nicht nachvollziehbar.

Durch das Thema Inklusion werde ich momentan sehr für dieses Thema sensibilisiert, was auch dringend notwendig war - ich hatte vorher keine Barrierefreiheit im Kopf! Umso besser finde ich, dass du uns auch hier auf solche Missstände aufmerksam machst.


Horst

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Restaurants, Veranstaltungen, Konzerte ... da gibt es in D massenhaft (schlechte Beispiele) dafür das (Geh-)Behinderte neben ihrem Handicap das schon schlimm genug ist von der Gesellschaft und politischen Führung im Stich gelassen werden.
Haben keine Lobby, bringen nicht so viele Wählerstimmen wie Rentner .. also who cares  ?!

Ich bin sehr gerne bereit das in unserem Forum anders zu handhaben.
Wir sollten einen Bereich überlegen in dem wir Infos zu Reisen/unterwegs sein mit Behinderung sammeln und besprechen können.
Ich bin mit dem, was Du sagst, nicht einverstanden, aber ich werde bis zum Tod Dein Recht verteidigen, es zu sagen. Voltaire.

DocHoliday

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Die Idee finde ich klasse!
So was habe ich bisher in keinem Reiseforum gesehen.

Aber wo wir gerade beim Thema sind: Ist denn das Forum/das Portal Eumerika.de barrierefrei nach BITV?

Andrea

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Hammer! Unfassbar!

Die Idee von Horst finde ich hervorragend. Seitdem ich Rainer kenne, achte ich tatsächlich noch mehr auf Barrierefreiheit (beruflich habe ich aber auch öfters mal mit Rollifahrern, Rollatornutzern oder sehbehinderten Menschen zu tun). Behinderte liegen mir schon seit meiner Kindheit irgendwie am Herzen, aber so richtig engagiert habe ich mich leider noch nie. Und dabei wollte ich mit 14 noch Sonderpädagogik studieren....

Ich plane ja gerade einen Schottlandurlaub und habe diese Seite hier gefunden: http://www.schottland-fuer-alle.com/1.html
Ich habe noch nicht näher hingeschaut, aber bisher habe ich selten Reiseseiten gefunden, die auf Leute mit Handicap spezialisiert sind.

Rainer, nun ist Schottland im Oktober vielleicht nicht so toll, aber von Juni-September ganz sicher! Obwohl es ja nicht unbedingt die Highlands sein müssen...

Liebe Grüße, Andrea



www.antiwalks.eumerika.de

Rainer

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Aber wo wir gerade beim Thema sind: Ist denn das Forum/das Portal Eumerika.de barrierefrei nach BITV?

Keine Ahnung - der Anforderungskatalog ist ziemlich komplex und man müßte die Punkte einzeln durchgehen. So oder so habe ich keinen Einfluss darauf, das ist ein Script von SMF (das ist der einzige Inhalt, den wir zur Zeit anbieten), die müßten im Prinzip überprüfen, ob sie die Kriterien nach WCAG erfüllen.

Auf Grund der besonderen Problematik, dass hier auch noch freie Anwenderinhalte eingestellt werden (die teilweise auch mit HTML durch die Teilnehmer selbst gestaltbar sind), ist eine 100%-ige Konformität sicherlich ohnehin nicht erzwingbar, dazu müßten die Anwender ja selbst auch wissen, nach welchen Richtlinien sie ihre Beiträge verfassen. Es gibt leider auch keine "Syntaxchecker" wie beispielsweise bei den W3C Richtlinien für korrektes HTML, da viele Dinge einfach semantisch ausformuliert sind, ohne dass es eine technische Möglichkeit gibt, das im Source zu überprüfen.

Im Grunde gesehen müßte man Blinde befragen, ob die mit ihren Vorlesemaschinen hier zurechtkommen. Ich würde vermuten, dass es sicherlich nicht komplett ungeeignet ist, aber ob es wirklich komplett barrierefrei ist - weiß ich nicht. Ich hatte in der ReHa einen blinden Masseur, mit dem habe ich mich auch öfter darüber unterhalten, welche speziellen Probleme er wann hat, aber das ist so ohne weiteres nicht nachvollziehbar.

Was die Idee von Horst betrifft:

das ist natürlich im Ansatz immer eine gute Idee, aber ich weiß aus leidvoller jahrelanger Erfahrung, dass das nicht so einfach umzusetzen sein wird. Das Problem ist immer (und das sehen wir ja auch schon an der Frage nach der Barrierefreiheit, wobei das zugebenermaßen noch erheblich komplexer ist), dass gesunde Menschen schlecht bis gar nicht wahrnehmen und beurteilen können, was in welchem Maße "machbar" ist und was nicht. Das ist einfach in der Materie begründet, man kann sich als gesunder Mensch selbst bei gutem Vorstellungsvermögen nicht in die Lage eines Behinderten versetzen. Und entsprechend geht man auch mit einer anderen Wahrnehmung durch das Leben. Das ist kein Vorwurf, ich war ja selbst bis zum 38. Lebensjahr gesund und munter und habe selbst sicher auch nichts bemerkt.

Erst wenn man selbst betroffen ist, dann gehen einem buchstäblich die Augen auf. Man sieht und registriert Dinge, wo gesunde Menschen nachher sagen würden, ne, das war so nicht. Und selbst wenn man sich einen gewissen Blick dafür antrainiert hat - man muss sich sicherlich extrem bemühen und konzentrieren, um nicht doch irgendein blödes Detail übersehen zu haben. Wer behindert ist, nimmt das unmittelbar sofort wahr. Der sieht seine Umwelt in einem ganz anderen Licht.

Von daher stellt sich mir die praktische Frage, wie können wie diese im Moment noch sehr abstrakte Idee in Taten umsetzen? "Brainstorming" wurde das in der Firma immer genannt. Denn "einfach so" wird das nicht gehen.

Was die Behinderung und die Behinderten an sich betrifft: es liegt ja schon in der Materie begründet, man spricht von "den Behinderten". Das ist irgendwie eine fest definierte Gruppe innerhalb unserer Gesellschaft. So ist es in den Köpfen und genau das ist das Problem. Es gibt keine Gruppe "die Behinderten". Denn das sind wir selbst - alle. Auch die, die es vermeintlich nicht sind. Denn (und das ist das Tückische) es kann jeden treffen - sofort und mit endgültiger Wirkung. Mit einem Schlag ist man nicht mehr Teil der Gruppe der normalen Menschen, man ist ein Mitglied der Gruppe der Behinderten. Auf einmal ist man in der Gesellschaft nicht mehr der gleiche Mensch (obwohl man es eigentlich ist). Und jeder denkt tief in seinem Inneren: das trifft nur andere, das sind halt "die Behinderten". Niemand kann sich vorstellen, dass es ihn selbst auch trifft. Dabei sind fast alle Behinderten auch einmal gesund gewesen. Bis sie irgendwann einen Unfall hatten, oder (was sogar die deutliche häufigere Ursache ist) einer schweren Krankheit zum Opfer gefallen sind, eine Krankheit, die ja auch immer nur die anderen bekommen.

Und dieses getrennte Gruppendenken, das bekommen wir nicht aus den Köpfen heraus. Eigentlich müssen wir versuchen, eine Behinderung als etwas Selbstverständliches und normales und Teil unserer Gesellschaft anzuerkennen und mit diesen Menschen genauso leben und umgehen, wie mit nicht behinderten Menschen. Dass wir in Deutschland Lichtjahre(!) davon entfernt sind, zeigt beispielsweise dieser Bau des Flussschiffs TUI Sonata. Das hätte eigentlich so nie gebaut werden dürfen, weil es nur für einen Teil unserer Gesellschaft benutzbar ist, andere Teile sind ausgeschlossen. Was so besonders schrecklich daran ist: es wäre so einfach gewesen, das umzusetzen. Ich bin ja keiner der "radikalen Behinderten", die für sich alles einfordern, was auch die anderen machen können. Ich sehe ja ein, dass man ein altes Bauwerk nur unter extremen Kosten so verändern kann, dass es auch für Rollstuhlfahrer befahrbar ist, inkl. Toilette. Ich habe ja kein Problem damit, dass manche Dinge historisch gewachsen sind, ich muss nicht alles können in meinem Leben, es bleibt genügend übrig, was ich sonst tun kann.

Aber wenn da etwas neu gebaut wird und dann auch noch etwas so bewährtes, etwas so einfaches wie ein Kreuzfahrtschiff (derer es massenhaft wirklich behinderengerechte Ausführungen auf hoher See gibt), wie ignorant und dumm muss man sein, wenn man dann immer noch "vergisst", Aufzüge einzubauen und wenigstens ein oder zwei Zimmer mit einer ebenerdigen Dusche zu versehen und mit etwas mehr Raum zum Rangieren? Das ist mir vollkommen unbegreiflich. Das ist schon vorsätzlich und boshaft. Anders kann ich es nicht interpretieren, da sind die Behinderten wieder genau diese "andere Gruppe" und diese Gruppe ist unerwünscht. Das ist schlicht ekelhaft.

Paula

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Rainer ich gebe dir vollkommen recht wobei ich das alles fast nicht glauben kann.
Wenn ich einer gefragt hätte würde ich sagen natürlich muss so ein Schiff behindertengerecht ausgestattet sein, das ist doch gesetzlich vorgeschrieben! Das hatte ich wirklich geglaubt!

Rainer kennst du dich mit den diesbezüglichen Gesetzen aus? Ich finde das solltest du nicht einfach so hinnehmen, gibt es keine Beschwerdestelle? Das kann doch wirklich nicht wahr sein bei einem Schiff aus diesem Jahrtausend.
Und was heißt da es fährt unter der Flagge von Malta? Das ist doch EU Gebiet, das ist doch kein Drittweltland. Ich kann es wirklich kaum fassen.

Ich kenne die Problematik von einem Bekannten der durch eine Erkrankung lange schon auf einem Auge blind ist und nun akut auf dem zweiten auch fast nix mehr sieht. Er hat mal geschildert wie er im Alltag mit seinen Mitmenschen zusammenrumpelt weil die mehr auf ihr Mobilgerät starren statt auf die Umwelt. Seither bemühe ich mich in der U Bahn besser aufzupassen ich gehöre nämlich auch zu diesen iPadhinterherlaufern  :-[
Viele Grüße Paula

Rainer

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Rainer kennst du dich mit den diesbezüglichen Gesetzen aus?

Ja, die Lage ist einfach: in Deutschland gibt es keine Gesetze. Jedenfalls keine, die vorschreiben, dass irgendwelche Schiffe, Flugzeuge, Bahnen, Busse oder Gebäude, egal ob öffentlich(!) oder privat in irgendeiner Weise auch nur annähernd für Behinderte geeignet sein müssen. Das ist Deutschland und der deutsche Beitrag für Behinderte von Gesetzesseite.

Ich finde das solltest du nicht einfach so hinnehmen, gibt es keine Beschwerdestelle?

"Beschwerdestelle"? Ne - wo denn, bei wem denn? Behindere haben keine Lobby in "Dunkeldeutschland". Ich habe das ernst gemeint mit "Behindertenfeindlich". Deutschland ist ein behindertenfeindliches Land, was in Gesetzgebung und entsprechenden Vorschriften weit hinten liegt. Selbst in Spanien gibt es Gesetze, dass Hotel bestimmte Auflagen erfüllen ermüssen. In Deutschland gibt es nichts dergleichen. Und zwar gar nichts.

Das kann doch wirklich nicht wahr sein bei einem Schiff aus diesem Jahrtausend.

Das habe ich auch bis gestern gedacht.

 
Das ist doch EU Gebiet, das ist doch kein Drittweltland. Ich kann es wirklich kaum fassen.

Deutschland ist ganz sicher Drittweltland, was gesetzliche Vorschriften betrifft, um Behinderte im Alltag zu integrieren.

Eine passende Schote dazu: bei uns in Mönchengladbach ist die Stadtverwaltung auf verschiedene Gebäude und Bereiche aufgeteilt. Das Amt für Schwerbehindertenangelegenheiten (Ausgabe des blauen Parkausweises gegen Vorlage eines mit den notwendigen Merkmalen versehenen Behindertenausweis) befindet sich in einem Gebäude, welches explizit NICHT für Rollstuhlfahrer geeignet ist... (kein Scherz!).

Am Düsseldorfer Flughafen ist der Lounge Bereich umgebaut worden, die Hugo Junkers Lounge hat einen neuen Sanitärbereich bekommen (größer und moderner). Anzahl Behindertentoiletten: NULL!

Usw. etc. pp. - es gibt unzählige Beispiele deutscher Ignoranz für die Bedürfnisse von Behinderten. Und Herr Schäuble, auf dessen Behinderung sicherlich auch einige Hoffnungen lagen, hat einen speziellen Sitzplatz im Bundestag bekommen und außerdem drei Bodygards, die ihn aus dem Auto in den Rollstuhl setzen und zurück. Für die "normalen" Behinderten hat sich sonst nichts geändert.

Andreas

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Das mit den Flusskreuzfahrtschiffen ist aber kein Geheimnis:
Zitat
Besonders heikel wird es auf den zwangsläufig eher engen und kleinen Flusskreuzfahrtschiffen. Wirklich komplett behindertengerecht ist derzeit nur eins: Die "Alegria" des holländischen Anbieters Adelle Cruises hat Anfang 2012 dafür vom Verein Aktive Behinderte Stuttgart (ABS) den Award "Goldener Rollstuhl" verliehen bekommen.

http://www.spiegel.de/reise/aktuell/barrierefreie-kreuzfahrt-nicht-alle-schiffe-sind-behindertengerecht-a-920524.html

Rainer

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Das mit den Flusskreuzfahrtschiffen ist aber kein Geheimnis:

Ein Geheimnis ist es sicher nicht, aber dennoch überraschend, wenn man sich sonst nicht damit befasst hat. Glücklicherweise habe ich es ja auch noch nachgeschaut, obwohl ich eigentlich nicht wirklich angenommen habe, es gäbe nicht einmal Aufzüge.

Und peinlich ist es so oder oder so.

Horst

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"Brainstorming" wurde das in der Firma immer genannt.
Na dann mal los...



Das ist einfach in der Materie begründet, man kann sich als gesunder Mensch selbst bei gutem Vorstellungsvermögen nicht in die Lage eines Behinderten versetzen. Und entsprechend geht man auch mit einer anderen Wahrnehmung durch das Leben. Das ist kein Vorwurf, ich war ja selbst bis zum 38. Lebensjahr gesund und munter und habe selbst sicher auch nichts bemerkt.
Das ist so - aber die Wahrnehmnung kann man versuchen zu ändern.
Als vor Jahren Bilderrätsel sehr beliebt und ein großes Thema waren haben die Leute auf Reisen plötzlich die Augen offen gehalten wo man denn zu dem Thema ein Foto machen könnte.
Also warum nicht dadurch daß wir hier thematisieren ein Bewusstsein dafür schaffen, daß wir zukünftig unterwegs auf solche Details beginnen zu achten und es hier im Forum besprechen.



Erst wenn man selbst betroffen ist, dann gehen einem buchstäblich die Augen auf. Man sieht und registriert Dinge, wo gesunde Menschen nachher sagen würden, ne, das war so nicht. Und selbst wenn man sich einen gewissen Blick dafür antrainiert hat - man muss sich sicherlich extrem bemühen und konzentrieren, um nicht doch irgendein blödes Detail übersehen zu haben. Wer behindert ist, nimmt das unmittelbar sofort wahr. Der sieht seine Umwelt in einem ganz anderen Licht.
Von daher stellt sich mir die praktische Frage, wie können wie diese im Moment noch sehr abstrakte Idee in Taten umsetzen?
In dem wir uns mit dem Thema befassen werden auch Nicht-Behinderte Dinge lernen, über die sie vorher noch nie nachgedacht haben.
Ich glaube zwar nicht, daß wir mit eumerika soviel Druck aufbauen können, daß wir deutsche Gesetze ändern werden, aber vielleicht kann zumindest ein Info-Portal entstehen, daß Orte, Locations, Parks, Restaurants, Hotels...ect. auf Behindertentauglichkeit hin bespricht.
Und wenn es nur die Info ist daß es einen Aufzug und eine Behindertentoilette gibt oder wie die Beschaffenheit der Wege ist.



Was die Behinderung und die Behinderten an sich betrifft: es liegt ja schon in der Materie begründet, man spricht von "den Behinderten". Das ist irgendwie eine fest definierte Gruppe innerhalb unserer Gesellschaft. So ist es in den Köpfen und genau das ist das Problem. Es gibt keine Gruppe "die Behinderten".
Welcher Gruppe der Behinderten würden denn Informationen in einem Forum am meisten nützen?
Ich selbst wäre jetzt von Geh-Behinderten ausgegangen.
Andere Behinderungen können wir über dieses Forum wahrscheinlich nicht erreichen.


Denn (und das ist das Tückische) es kann jeden treffen - sofort und mit endgültiger Wirkung. Mit einem Schlag ist man nicht mehr Teil der Gruppe der normalen Menschen, man ist ein Mitglied der Gruppe der Behinderten. Auf einmal ist man in der Gesellschaft nicht mehr der gleiche Mensch (obwohl man es eigentlich ist). Und jeder denkt tief in seinem Inneren: das trifft nur andere, das sind halt "die Behinderten". Niemand kann sich vorstellen, dass es ihn selbst auch trifft.

Und dieses getrennte Gruppendenken, das bekommen wir nicht aus den Köpfen heraus. Eigentlich müssen wir versuchen, eine Behinderung als etwas Selbstverständliches und normales und Teil unserer Gesellschaft anzuerkennen und mit diesen Menschen genauso leben und umgehen, wie mit nicht behinderten Menschen.
Im Moment sperren wir das Thema ja genauso aus wie alle anderen.
Ich würde dafür ein Board spendieren und unsere Mitglieder können dort Infos sammeln und Fragen stellen.
Das Board könnte z.B. durch gepinnte Themen eine kleine Struktur bekommen.
Ein Thread sollte sich mit dem Board an sich beschäftigen - also was man damit bezwecken will und worum es geht.
Ich denke alleine mit Deinen Statements hier und auch mit Deinen Reiseberichten ist schon der eine oder andere Gedankengang, ein anderer Blick ausgelöst worden.
Auf dem Weg sollten wir weiter gehen.

 
Ich bin mit dem, was Du sagst, nicht einverstanden, aber ich werde bis zum Tod Dein Recht verteidigen, es zu sagen. Voltaire.

Andrea

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Ich finde die Idee sehr gut. Beispielsweise war mir 2011 am Grand Canyon North Rim aufgefallen, dass ein Weg, der als "accessible" deklariert war, mit einer riesigen Steigung verbunden war, bei dem der Rollifahrer gute Bremsen benötigt hätte bzw auf dem Rückweg jemanden, der (wirklich) kräftig schieben helfen kann... Ich glaube, ich hatte das sogar im Bericht erwähnt. Das war mir vorallem auch deswegen aufgefallen, weil ich ja hätte beide Wege gehen können und der mit den Treppen (immer mal wieder ein paar Stufen) erschien mir deutlich leichter  :(
Liebe Grüße, Andrea



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Silke

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Ich finde das solltest du nicht einfach so hinnehmen, gibt es keine Beschwerdestelle?

"Beschwerdestelle"? Ne - wo denn, bei wem denn? Behindere haben keine Lobby in "Dunkeldeutschland".

Z.B. dort: http://www.behindertenbeauftragte.de/DE/Home/home_node.html ?

Zitat

Ich habe das ernst gemeint mit "Behindertenfeindlich". Deutschland ist ein behindertenfeindliches Land, was in Gesetzgebung und entsprechenden Vorschriften weit hinten liegt. Selbst in Spanien gibt es Gesetze, dass Hotel bestimmte Auflagen erfüllen ermüssen. In Deutschland gibt es nichts dergleichen. Und zwar gar nichts.


Das stimmt zum Glück nicht so ganz. Es gibt das BGG (Behindertengleichstellungsgesetz).

Zitat

Eine passende Schote dazu: bei uns in Mönchengladbach ist die Stadtverwaltung auf verschiedene Gebäude und Bereiche aufgeteilt. Das Amt für Schwerbehindertenangelegenheiten (Ausgabe des blauen Parkausweises gegen Vorlage eines mit den notwendigen Merkmalen versehenen Behindertenausweis) befindet sich in einem Gebäude, welches explizit NICHT für Rollstuhlfahrer geeignet ist... (kein Scherz!).


Ich denke, dort muss man auch nicht zwangsläufig persönlich vorsprechen, oder? Das kann man sicher schriftlich erledigen.

Ich kann ja nur von dem Amt reden, in dem ich arbeite, dort wird schon großen Wert auf Barrierefreiheit gelegt. Das geht so weit, dass einige Merkblätter und Formulare lieber gar nicht im Internet eingestellt werden, bis sie barrierefrei gestaltet werden können (die Anforderungen sind so hoch und kompliziert, dass es im Amt nur Wenige können und das dauert). 

Rainer

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Z.B. dort: http://www.behindertenbeauftragte.de/DE/Home/home_node.html ?

Witzig. Schreib doch mal rein aus Spass an den Beauftragten und beschwere Dich, dass das TUI Schiff keine Aufzüge hat. Dann bekommst Du ein mitleidvolles Antwortschreiben, dass man bedauerlicherweise nichts machen kann, weil das nicht geregelt ist. Das Porto kann man sich sparen.

Das stimmt zum Glück nicht so ganz. Es gibt das BGG (Behindertengleichstellungsgesetz).

Das habe ich bewusst nicht genannt, das ist eines der schlimmsten "Alibi" Gesetze in unserem Bürgerlichen Gesetzbuch. Da wird nämlich gar nichts geregelt, da steht dann (beispielsweise):

"Die Dienststellen und sonstigen Einrichtungen der Bundesverwaltung, einschließlich der bundesunmittelbaren Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts sollen im Rahmen ihres jeweiligen Aufgabenbereichs die in § 1 genannten Ziele aktiv fördern und bei der Planung von Maßnahmen beachten"

Und was heißt das nun? "Gebt Euch Mühe oder nicht, wenn es nicht klappt, auch egal". Traurig aber wahr - gerade diese laschen "Gesetze" sind es ja Schuld, dass die Politiker ein ruhiges  Gewissen haben, auf der anderen Seite überhaupt kein Druck vorhanden ist, um beispielsweise die Barrierefreiheit in öffentlichen Bereichen, oder Hotels oder Gaststätten oder sonst wo zu erzwingen. Genau das IST ja das Problem - die Politik denkt, man habe doch Gesetze gemacht, aber die sind wirkungslos. Wieso nicht nach amerikanischem Vorbild, ohne Behindertentoilette bekommt nicht einmal eine McDonalds-Filiale seine Lizenz?

Ich denke, dort muss man auch nicht zwangsläufig persönlich vorsprechen, oder? Das kann man sicher schriftlich erledigen.

Kann man natürlich, man muss allerdings dann seine Schwerbehindertenausweis per Post verschicken und es ist doch dennoch schizophren, wieso ist ausgerechnet dieses Amt nicht schwerbehindertengerecht? Ich habe das beispielsweise nicht gewusst und wir sind einfach hingefahren und dann schaut man doof aus der Wäsche, da rechnet man nicht mit (d.h. heute rechne ich damit, aber das ist eben der Lernprozess der stattfindet).

Ich kann ja nur von dem Amt reden, in dem ich arbeite, dort wird schon großen Wert auf Barrierefreiheit gelegt.

So soll es ja auch sein, aber die Integration von Schwerbehinderten ist eine Katastrophe. Es fehlt der Zwang und ohne Zwang gibt man sich Mühe oder auch nicht. Weißt Du, wieviele Lokale es in der Düsseldorfer Altstadt gibt, wo die Toilette wenigstens ebenerdig erreichbar ist? Mir fällt auf Anhieb nur das Schlösser Alt ein und das Uerige - und ich kenne eine ganze Menge Lokale dort. So etwas ist in den USA unvorstellbar.

Jetzt wird man sagen, ja ok, das sind alte Gebäude. Sehe ich auch ein, aber dass so gar nichts geht, ist schon schlimm. Und am neuerbauten Bereich im Hafen (da hätte man ja wirklich darauf achten können) haben auch fast alle Restaurants die Toilette im Keller. Ohne Aufzug.

Typisch sind auch solche Sachen: das Kaarster Rathaus ist vor 15 Jahren neu gebaut, hochmoderne Architektur. Im Anschluss an ein Jubliäumskonzert sollte für unseren Chor dort eine Feier stattfinden. Im Vorfeld habe ich das mit Mitsängern besprochen, die auch Beziehungen zur Stadt haben, es wurde ausdrücklich eine Behindertentoilette angepriesen. Als ich an dem Abend dann auf Toilette musste (und damals habe ich noch im Rollstuhl gesessen), habe ich nachgefragt. Man ging zusammen mit mir zu einem Aufzug - der tat es aber nicht. War geblockt. Der (stinkige) hinzugerufene Hausmeister (der hatte eigentlich längst Dienstschluss) musste den Aufzug freischalten. Endlich an der Behindertentoilette angekommen, das gleiche Problem von vorne - die Toilette war abgeschlossen. Der Hausmeister musste nochmal losziehen, um auch diesen Schlüssel zu holen. Als er endlich zurück kam und die Toilette aufgeschlossen wurde, stellte sich heraus, dass die Toilette nicht benutzbar war, die Putzfrauen (oder wer auch immer) hatten die Toilette pickepacke voll zugerammelt mit Putzkrempel und sonstigem Sperrmüll.

Wir sind dann mit dem Aufzug zurück nach oben und dann sind wir nach Hause gefahren, weil ich mir sonst buchstäblich in die Hose gemacht hätte. Du kannst Dir mit absoluter Sicherheit nicht vorstellen wie erniedrigend es ist, wenn Du nicht auf Toilette gehen kannst, wenn Du es gerne möchtest.

Aber das ganze Szenario ist typisch und stellvertretend für Deutschland. Zugepackte und entartete Behindertentoiletten habe ich inzwischen schon oft gesehen.

Natürlich gibt es dennoch ein paar Gesetze und Regelungen in Deutschland, die Behinderten helfen sollen - aber genau da liegt das Problem. Manches geht (behinderte Berufstätige haben Anspruch auf 5 Tage mehr Urlaub, genießen besonderen Kündigungsschutz usw  - aber das trifft leider nur 5% der Schwerbehinderten, die anderen 95% sind gar nicht der Lage zu arbeiten), manches ist ein schlechter Witz, wie beispielsweise die ganzen Steuernachlässe. Von welcher Steuer soll etwas nachgelassen werden, wenn man sowieso nur eine lachhafte Rente wegen Erwerbsunfähigkeit erhält? Wieso bekommt man stattdessen nicht einfach eine fixe Summe als Mehraufwand ausbezahlt (weil man Hilfe im Haushalt benötigt o.ä.), ähnlich wie Kindergeld? Das kommt wenigstens an, die Steuererleichterung ist das Papier nicht wert, auf dem sie verfasst wurde.

Ich könnte wahrscheinlich inzwischen ein ganzes Buch schreiben, was so alles im Argen liegt und was einfach nicht funktioniert. Und da sind gerade unsere skandinavischen Nachbarn um Welten weiter. Aber ausgerechnet in Deutschland tut sich so gut wie nichts. Da haben Einkaufsläden hohe Einstiegsstufen, Restaurants die Toilette im Keller, öffentliche Gebäude haben keine Aufzüge (in MG ist das Amtsgericht nur in der Parterre erreichbar - ich musste vor ein paar Jahren in den 1. Stock: ging nicht) usw. etc. pp. - es ist ein Katzenjammer. Und dass auf Behindertenparkplätzen allenfalls geistig Behinderte parken, weil es sie es als Kavaliersdelikt verstehen, ist sowieso der normale Alltag.