Montag, 2. Mai 2016
Wandertag 1: Saint-Brieuc bis Bonabry (ca. 23 km)Als ich um sieben Uhr aufstehe, merke ich, dass ich mir gestern einen leichten Sonnenbrand geholt habe. In der Bretagne! Die kannte ich bisher eher als die Gegend, in der man sich im August noch einen warmen Kapuzenpulli nachkaufen muss.
Die Achillessehne scheint sich wieder mehr oder weniger vom gestrigen Städtetrip erholt zu haben und meldet nur noch eine leichte Betriebsstörung. Beim Frühstück im Hotel lesen wir ein wenig Zeitung, das heißt, wir schauen die Bilder von Mai-Randalen, aber die waren in Paris. Im Westen sei es ruhig gewesen, behauptet das Blatt.
Um 9 Uhr geht es dann endlich richtig los. Heute ist der Himmel bedeckt, aber zumindest sieht es im Moment nicht nach dem vorhergesagten Regen aus. Also bleiben Regenjacke und Regenhose im Rucksack und ich ziehe nur eine leichte Fleeceweste übers Wandershirt. Zuerst kaufen wir uns im kleinen Supermarkt um die Ecke noch zwei kleine Baguette und eine Salami für die Mittagsrast, dann folgen wir der Fußgängerzone nach Süden und eine Straße links hinunter zu einem der Flüsse, die durch Saint-Brieuc fließen, dem Gouédic. Unten am Fluss entlang führt ein Zuweg in etwa 3 km bis zur Küste, zum Hauptweg, dem GR 34.
Und kaum sind wir dort, bietet sich uns schon ein Vorgeschmack auf den heutigen Tag: Der Weg ist in diesem Bereich nicht sonderlich gut ausgezeichnet. Wir suchen die Markierung des GR 34, zwei horizontale Balken in rot und weiß. Die finden wir auch, aber die Markierung weist an das westliche Ufer des Gouet, des zweiten Flusses, der Saint-Brieuc durchfließt. Geradeaus in die Richtung, die meine Wanderkarte und meine Intuition richtig finden, sehen wir ein Kreuz aus einem weißen und einem roten Balken, was soviel heißt wie: Nein. Niemals nie. Hier kein Weg.
Ich bin stur, wir wollen nach Osten, Richtung Mont Saint Michel. Da kann es doch nicht richtig sein, dem Wegweiser nach Westen zu folgen. Wir müssen auf jeden Fall am Ostufer des Flusses bleiben, weiter vorne gibt es keine Brücke mehr. Und weil ich die Karte habe, beugt sich Elsa mal wieder. Wir kommen in einen etwas tristen Hafen, der immerhin mit teilweise schönen Graffitis aufgehübscht wurde:
Und als wäre nichts geschehen, finden wir nach ein paar hundert Metern dann doch unsere Wegmarkierung. Und einen Mann, der uns gleich mal eifrig Tipps gibt, wie wir weiter vorne am besten abkürzen können. Nein danke, wir wollen nicht abkürzen, wir wollen doch die Küste entlang wandern. Der Pfad steigt erst mal relativ steil an. Das überrascht mich doch ein wenig. Ich hatte mir eingebildet, wir würden erst mal entspannt auf Meereshöhe wandern. Aber wir müssen rauf, gewinnen Höhe, umrunden eine Landspitze und haben irgendwann den ersten Blick von oben auf die Bucht von Saint-Brieuc, in der sich im Moment wegen der Ebbe nicht viel Meer befindet. Hm, diese ganze Bucht müssen wir umrunden, und dann noch ein Stück ums gegenüberliegende Kap herum, und zwar heute. Habe ich wirklich die Kilometer im Wanderführer richtig zusammengerechnet? Das sieht so weit aus.
Wir folgen dem Weg, immer den Markierungen nach. Irgendwann weist eine Markierung an einem Pfahl eine kleine Straße nach unten, eine Abbiegemarkierung gibt es nicht, und auch kein Niemals-Nie-Kreuz, also laufen wir fröhlich geradeaus an einem Grundstück vorbei, auf dem sich bei unserem Anblick ein Hund in einem Zwinger fast entleibt. Sein Bellen verfolgt uns, als wir an einer Koppel vorbei einem Trampelpfad auf eine Wiese folgen. Der Pfad kreuzt einen anderen Pfad, wir folgen ihm aber weiter, bis er in einem Bogen an einer Hecke vorbeiführt. Dann kreuzen wir wieder einen Pfad, nämlich den, den wir eben gekommen sind und kommen unten an der Pferdekoppel an. Noch ein paar Meter nach links, und wir stehen wieder am Ausgangspunkt, während der Hund sich weiter heiser bellt. Hm, das kann doch nicht sein. Also wieder zurück die kleine Straße hinauf, und diesmal biegen wir auf einen unmarkierten Weg ab, der sich als der richtige herausstellt. Vermutlich haben Generationen von Wanderern vor uns auf der Wiese schon die 8 gelaufen, und Generationen von Wanderern nach uns werden das auch noch tun.
Die nächsten Minuten werden wir von immer neuem Hundegebell verfolgt. Man könnte meinen, die vierbeinige Einwohnerschaft hier informiert sich gegenseitig über unser Kommen. Weiter unten an der Küste sieht es mit Markierungen dann auch wieder mau aus, aber wir treffen eine Frau mit Hund, und die zeigt uns den richtigen Weg. Glück gehabt. Und ab hier ist der Weg dann auch ein Stück gut ausgebaut und die richtige Richtung nicht zu verfehlen.
Gegen 11.45 Uhr machen wir mit Blick auf die Bucht die erste Rast.
Wir sind guter Dinge. Die Rucksäcke tragen sich gut, das Wetter wird besser, wir haben unsere Westen schon halb geöffnet. Knie und Fersen sind brav und tragen uns ohne Murren. Elsa hat sich für die Wanderung Wanderstöcke geliehen, damit sie die Knie beim Bergabgehen entlasten kann, und ich versuche, beim Bergaufgehen nicht zu viel Druck auf die Fersen zu geben, um die Achillessehnen nicht zu provozieren. Wir ergänzen uns also großartig.
Die nächsten Kilometer bleibt der Weg aber flach. Wir erreichen um viertel nach zwölf Langeux mitsamt einem kleinen Eisenbahnmuseum und wandern entlang einer kaum befahrenen Straße weiter. Die Küste verwandelt sich immer mehr in Marschland, wir passieren eine Crêperie, die leider geschlossen ist, und Elsa versorgt eine Blase am Zeh mit einem neuen Pflaster. Vorher habe ich sie schon dabei erwischt, als sie sich an einer Bushaltestelle die Abfahrtszeiten angeschaut hat, sie behauptet aber, sie hätte sich nur auf der Karte orientieren wollen.
Als wir den tiefsten Punkt der Bucht bei Yffiniac erreichen, ist es schließlich so warm, dass wir zum ersten Mal die Westen auf die Rucksäcke schnallen und in unseren Shirts weiterwandern. Danach wird uns noch wärmer: Der Weg ist mal wieder nicht ausgezeichnet. Wir folgen einer unbefestigten Straße hinauf, nur um irgendwann festzustellen, dass wir hier falsch sind. Immerhin hilft hier der Wanderführer weiter, in dem die vielen unbefestigten Straße zwischen den Bauernhöfen eingezeichnet sind, den Küstenpfad wiederzufinden. Endlich wandern wir entlang der anderen Seite der Bucht, auf die wir den ganzen Vormittag hinübergeschaut haben, und so langsam glaube ich doch daran, dass wir unser Etappenziel schaffen können.
Gegen 14 Uhr machen wir dann wieder Rast, diesmal in der Nähe der Ortschaft Hillion. Wir essen Baguette und die Würste, die Elsa noch von zuhause mitgebracht hat, dann folgen wir dem schmalen Pfad bis zu dem kleinen Kap. Die letzten Meter bis zur Landspitze wird der Weg steiniger, und noch ein paar hundert Meter weiter erhaschen wir schon Blicke in die nächste Bucht, in der wir morgen wandern werden. Und ganz weit da hinten im Dunst wartet das Kap d' Erquy. Irgendwann kommen wir dort auch hin, erkläre ich Elsa, um nach einem Blick in meinen Plan erschrocken festzustellen, dass „irgendwann“ in unserem Fall schon „übermorgen“ heißt. Hm, das sieht aber ganz schön weit aus. Andererseits: Bis dahin sieht der Weg ja auch tatsächlich noch über 30 km vor. Kann also doch passen.
Heute passt es uns erst mal, dass wir bald den Strand von Bonabry erreichen. Irgendwo hier ist unsere wohl außergewöhnlichste Unterkunft zu finden, das Chateau de Bonabry, wo uns ein echter Vicomte samt Vicomtesse erwartet und uns heute abend bewirten wird. Das Chateau ist leider nicht ausgeschildert, wir fragen Leute, die hier am Strand gerade ins Auto steigen. Der Erste hat überhaupt keine Ahnung, die Zweite meint, wir müssten zuerst zurück nach Hillion und dann eine Straße nehmen. Hm, zurück, nein, das passt gar nicht, das wäre ein Umweg von ca. 2 km. Das Chateau müsste eigentlich ganz in der Nähe sein, und auf dem Plan ist eindeutig ein Weg eingezeichnet, den wir bloß im Moment nicht finden. Zum Glück kennt sich der Dritte hier aus und schickt uns einen breiten Feldweg hinauf, auf dem wir nach wenigen Minuten gegen 16.30 Uhr das Chateau erreichen.
Den Vicomte treffen wir in Arbeitsklamotten schon im Schlosshof an. Er behauptet charmant, man würde uns die erwanderte Strecke gar nicht ansehen, aber wir lassen uns ziemlich erschöpft am wackligen Tisch im Hof nieder, und weil Elsa ganz lieb fragt, bringt der Vicomte persönlich uns zwei Flaschen Bier, die wir souverän mit unseren Schweizer Taschenmessern öffnen. So richtig weiß der Vicomte aber im Moment nichts mit uns anzufangen. Eigentlich müsste seine Frau schon längst wieder hier sein, die sei vor zwei Stunden mal kurz weggefahren und immer noch nicht zurück, Frauen halt. Weil die Frau sich weiterhin rar macht, zeigt der Vicomte uns erst einmal den Garten hinterm Chateau. Das Chateau ist über 400 Jahre alt und seitdem in Familienbesitz, und wie der Vicomte uns nachvollziehbar erklärt, ist der Unterhalt eines alten Chateaus nicht gerade günstig.
Nach der Gartenführung macht sich die Vicomtesse immer noch rar, und so schafft es der Vicomte dann doch, uns in unsere Zimmer einzuchecken. Wow, hier könnte man eine ganz Schulklasse unterbringen! Elsa hat in ihrem Zimmer zwar kein Bad, sondern muss ein paar Meter über den Flur gehen, dafür hat sie dort einen ganzen Badepalast für sich allein. Mein Zimmer ist noch ein wenig größer als ihres und das angrenzende Badezimmer ist immer noch größer als so manches Zimmer, in dem wir auf der Reise noch übernachten werden. Nur kalt ist es hier, das merken wir gleich, kälter als draußen, und ein wenig klamm.
Wir verabreden uns für 8 Uhr wieder unten zum Abendessen, auch wenn der Vicomte ein wenig skeptisch scheint, ob seine Frau uns bis dahin die Ehre geben wird, und ruhen erst mal aus, ich auf dem Bett, Elsa in der heißen Badewanne. Als ich sie später in ihrem Zimmer abhole, zittert sie vor Kälte. Unten ist es aber wärmer, dort brennt ein Feuer im Kamin, und wie sich herausstellt, ist inzwischen auch die Vicomtesse wieder zuhause und hat wie vorher per E-mail verabredet unser Abendessen zubereitet.
Beide sind reizend, wir sind die einzigen Gäste und werden von ihnen bedient. Als Vorspeise gibt es überbackene Jakobsmuscheln, dann einen Teller mit Aufschnitt und Salat und einem Baguette mit überbackenem Ziegenkäse, und zum Schluss bekommen wir Schokoladenkuchen und jeder einen Schluck 35 Jahren alten Calvados.
Währenddessen unterhält uns der Vicomte mit Geplauer über deutsch-französische Politik. In unserem weinseligen Kopf und mit unseren bescheidenen französischen Sprachkenntnissen kommen wir dabei allerdings nicht ganz mit und denken bei „Hollande“ erst mal an die Niederlande. Allerdings hat der Vicomte auch eine Geistergeschichte auf Lager: Im Chateau spuke ein Phantom. Na, auch das kann mich heute nicht mehr schrecken, ich bin sicher, dass ich heute nacht wie ein Stein schlafen werden, egal ob das Phantom sich in meinem Zimmer austobt.
Als wir schließlich wirklich schlafen gehen, gönne ich der Ferse noch eine dicke Ladung Voltarengel, kuschele mich unter drei Wolldecken und lese auf dem Kindle noch ein paar Seiten in einem Buch über die katastrophale Everest-Expedition von 1996. Die Kälte am Berg kann ich gerade gut nachfühlen. Ich schlafe trotzdem schnell ein.
Gute Nacht!
(Und wer sich bis zum nächsten Wandertag ein Bild von unseren Gastgebern machen will, findet Bilder und Berichte auf ihrer Internetseite:
http://www.bonabry.fr/ )